Warum scheuen Jugendliche klassisches Fernsehen? Und wie müsste sich das Medium weiterentwickeln, damit es junge Menschen wieder interessiert? Diese Fragen beschäftigen mich schon lange (und das nicht nur, weil ich beim TV arbeite). Eine mögliche Antwort kam mir über Nacht – auf dem Tahrir-Platz in Kairo.
Der „Marsch der Millionen“, kurz vor Mitternacht. Präsident Mubarak hat gerade seine Fernsehansprache gehalten. Die Menge ist wütend. Richtig wütend. Ich will bei Twitter gerade eine Meldung absetzen, da lese ich von deutschen Medien, die vom „Jubel auf dem Tahrir-Platz“ berichten.
Rückblende – wenige Minuten zuvor im ZDF-heute journal:
Jubel? Hier die Reaktion, wie ich sie selbst auf dem Tahrir-Platz wahrgenommen habe: Schuhe fliegen (Man muss kein Nahost-Experte sein, um zu wissen, was das bedeutet).
Das Dilemma ist bekannt: der TV-Korrespondent kann seinen Posten auf dem Hoteldach, Kilometer entfernt, nicht verlassen, weil er laufend Schaltgespräche geben muss. Der kurze Eingangsdialog zwischen dem Moderator und dem Korrespondenten zeigt das sehr schön. In der Folge klammert er sich an die einzige Information, die er tatsächlich hat; das ist Mubaraks Rede, aus der er ausführlich zitiert. Und so kommt es, dass die meisten Fernsehzuschauer an diesem Abend mit einer Fehlinterpretation schlafen gehen.
Die Distanz des Korrespondenten zum Ort des Geschehens ist nicht das eigentliche Problem, es ist die Distanz zum Zuschauer. „Einordnen“ nennen wir Fernsehleute das, wenn ein Korrespondent von der hohen Kanzel seines Hoteldaches zu uns spricht. Das Problem: das meiste von dem, was wir von ihm in so einer Situation lernen, wissen wir schon. Denn der Zuschauer ist weit nicht mehr so „dumm“ und passiv wie einst, er hat Alternativen (aktuell z.B. Al Jazeera), Zugang zu denselben, wenn nicht sogar besseren Quellen, als es der Korrespondent in so einem Moment selbst hat.
Nichts ist so alt wie die Meldung von vor einer Stunde
In den letzten Jahren habe ich an mir selbst eine erstaunliche Entwicklung beobachtet: Nicht nur, dass ich seit Jahren kein Abo mehr für eine Tageszeitung besitze, ich schaue auch immer seltener fern. Wozu auch? Seitdem ich im Netz unterwegs bin, erscheint mir das, was mir Zeitungen oder Fernsehen zu bieten haben, wie aus einer anderen Welt. Kaum eine Meldung, die ich nicht schon kenne. Kaum ein Bild oder Video, das ich nicht schon gesehen habe.
Das bedeutet nicht, dass ich weniger lese oder keine Videos schaue. Im Gegenteil. Ich sehe und lese heute ein Vielfaches von dem, was ich früher konsumiert habe. Der Unterschied: die Sendungen, die mich interessieren, hole ich mir aus Mediatheken. Serien und Filme ziehe ich mir legal :-) aus dem Internet, und zwar wann und wo ich sie gerade sehen will. Wie es aussieht, bin ich nicht allein. Eine Forsa-Studie sagt: 49 Prozent der Web-User haben schon über das Internet ferngesehen.
Noch gibt es keinen intelligenten Bildschirm, kein SmartScreen (in Analogie zum SmartPhone – ich verzichte bewusst auf den Begriff Fernseher), welches Fernsehen und Internet sinnvoll und vor allem benutzerfreundlich miteinander vereint. Aber dieser Kasten wird kommen, wer weiß, vielleicht sogar einmal mehr von Apple. Der Kampf gegen Google um das Wohnzimmer der Zukunft hat schon längst begonnen. Steve Jobs’ letzte Schlacht.
Apple-CEO Steve Jobs über die Zukunft des Fernsehens (2010)
Klassisches Fernsehen verliert an Bedeutung
Ich kenne die Kritik aus dem Kollegenkreis nur zu gut:
– Kein Mensch wolle sein eigener Programmdirektor sein. – Wirklich? ….Wozu dann die Fernbedienung?
– Fernsehen sei ein Leanback-Medium. – Wirklich? ….Warum schauen Jugendliche und junge Erwachsene zunehmend gezielt Videos über ihren Laptop?
– Es werde soviel ferngesehen wie nie zuvor. – Wirklich? …Medienforscher wissen bei den meisten „Zuschauern“ handelt es sich in Wirklichkeit um „Wegschauer“. Sie tun beim Fernsehen alles nur nicht fernsehen: Sie essen, bügeln, unterhalten sich am Telefon.
Wer Teenager zuhause hat, kennt das Phänomen: Fernsehen ohne Facebook, SMS oder MSN-Chat kommt in der Lebenswelt der digitalen Eingeborenen so gut wie nicht mehr vor. Das Smartphone in der Hand, das Laptop oder Tablet auf dem Schoß: eine Entwicklung, die nicht nur bei den „Kids“ zu beobachten ist. Laut einer neuen Deloitte-Studie gehen 42% der US-Amerikaner zwischen 14 und 75 Jahren parallel zum Fernsehen ins Internet. In den USA liegen Internet und TV mit knapp 300 Minuten am Tag nahezu gleich auf.
“We know people are multitasking while they’re watching TV“ sagt Albert Cheng von Disney/ABC Television („Lost“). Die Frage, die sich für TV-Macher stellt, lautet: wie darauf reagieren?
Eine „Facebook-Revolution“ der Mediennutzer
Schon heute haben wir es mit einem Mix unterschiedlichster Medien zu tun. Dabei müssen die Inhalte nicht mehr ausschließlich von Profi-Journalisten stammen. So können Korrespondenten aus dem TV-Studio oder vom Hotel-Dach aus senden. Daneben könnten aber auch Augenzeugen oder Betroffene vom Ort des Geschehens twittern. Wenn es auf einem anderen Kanal eine bessere Quelle gibt, machen sich die Zuschauer darauf gegenseitig aufmerksam. Für Programmmacher wie auch Zuschauer gilt: wer nicht mitmacht, schaut in die Röhre. Eine „Facebook-Revolution“ der people formerly known as audience.
Auch der Empfang dieser Content-Ströme ist nicht länger ortsgebunden: er kann zu Hause auf dem Fernsehschirm erfolgen, in der Arbeit über den Computer, oder über ein Smartphone von unterwegs. Folgende Skizzen habe ich auf dem Rückflug von Kairo nach Tel Aviv auf dem iPad entworfen:
Abb. 1 Der Fernsehschirm im Wohnzimmer ist groß und scharf genug, um Bild und Text sinnvoll zu kombinieren. Per Touch auf dem Control-Board (siehe Abb. 2) lassen sich die Inhalte aufrufen. Im Chatmodul unten beispielsweise können Agenturen, Facebook oder Twitterfeeds laufen. Grafiken und Schaubilder (unten rechts) könnten das Liveprogramm ergänzen.
Abb. 2 Das Control-Board ersetzt die Fernbedienung und steuert alle Inhalte auf dem großen TV-Bildschirm. Über die Tastatur kann gechattet oder im Web gesurft werden. Zugleich dient dieses Tablet auch als mobiler Fernsehschirm, den man beispielsweise auch mit in die Küche nehmen kann.
Während das klassische Fernsehprogramm auf dem großen Bildschirm flimmert (alternativ Smartphone oder Tablet), kann sich der Zuschauer zusätzliche Streams (Twitter, Facebook etc.) oder auch Grafiken auf den (Split-) Screen holen, die das Geschehen begleiten. Auch könnten sich Facebook-Freunde, räumlich voneinander getrennt, Sendungen gemeinsam anschauen und kommentieren: Lagerfeuer zwo-punkt-eins.
Das Video stammt aus dem Jahr 2009 (!)
Lagerfeuer und Watercooler
Dieser Lagerfeuer-, in den USA auch Watercooler-Effekt genannt, ist bereits heute eine relevante Größe für die Werbeindustrie. Medienspektakel wie das Super Bowl Finale (2011: 111 Millionen TV-Zuschauer) oder demnächst die Oscar-Verleihung, werden durch zusätzliche Plattformen über Soziale Netzwerke auch im Netz „verlängert“ und erzeugen somit einen noch viel größeren Hype als ohnehin schon. Auch kleineren Formaten wie „Real Housewives“ gelingt es immer wieder, durch ihre Präsenz im Web für mehr Aufmerksamkeit zu sorgen. „The water-cooler effect makes big shows even bigger (…) and gives small shows a new way to stand out.“, so das Fazit von Brian Stelter, New York Times.
Trotz zeitversetztem Fernsehen und Video-On-Demand (oder genau deshalb?) haben die Menschen offenbar eine große Sehnsucht, nicht nur isoliert voneinander fernzusehen. Ein Trend, der sich auch bei uns beobachten lässt. Der Erfolg von Public Viewing-Veranstaltungen zur Fußball-WM oder zum Eurovision Song Contest weist in dieselbe Richtung.
Die Wahrheit ist irgendwo da draußen
Zu den ersten TV-Machern, die diesen sog. Watercooler-Effekt des Netzes für sich feststellen konnten, zählten Mitte der 90er Jahre die Produzenten der SciFi-Reihe „Akte X“. Wie kaum ein anderes TV-Format zuvor, hatten die „Unheimlichen Fälle des FBI“ vor allem junge, netzaffine Menschen dazu animiert, bereits während der Ausstrahlung einer neuen Folge, ins Netz zu gehen (Fundstück: Der Original 56K-Modem-Sound!), um dort die Handlung via AOL oder Compuserve „live“ zu kommentieren. X-Files-Erfinder Chris Carter und sein Team machten sich dieses „Echtzeit-Feedback“ zunutze, verfolgten die Bemerkungen im Netz, und ließen die dadurch gewonnen Erkenntnisse zumindest indirekt in ihre nächsten Bücher einfließen.
Auch wenn direkte TV-Quotenzuwächse aufgrund von gesteigerten Social-Media-Aktivitäten schwer nachweisbar sind: der Imagegewinn, durch eine engere Zuschauerbindung ist unbestritten. Und dieser gilt nicht nur für Unterhaltungsformate.
Beispiel Hamburg-Wahl im Ersten. Über den gesamten Wahlabend hinweg hatte tagesschau.de seinen automatisierten Twitter-Feed durch 2 twitternde Redakteure ersetzt. Das Ergebnis: ein spürbarer Anstieg der Followerzahlen.
Das Feedback macht Mut:
Auch in 20 Jahren werden wir noch fernsehen. Allerdings wird das mit dem heutigen Fernsehen nur noch wenig zu tun haben. Sendungen, auf die man warten muss, wird es nicht mehr geben. Das Fernsehen wird persönlicher, macht aufgrund früherer Abrufe eigenständig Vorschläge. Videoangebote können gegoogelt werden, sämtliche Inhalte werden ins Wohnzimmer oder auf das Handy gestreamt. Live-TV wird durch Chat- und andere interaktiven Services begleitet. Die Fernbedienung weicht einem Tablet mit Touchscreen, das zugleich auch als Tastatur dient (Nein: eine funktionierende Spracherkennung wird es auch 2030 noch nicht geben – diese Hoffnung habe ich genauso aufgegeben, wie die Hoffnung auf fliegende Autos ;-).
Interview mit Tim Weber (BBC) zum Fernsehen der Zukunft
5 Thesen zur Weiterentwicklung des Fernsehens:
1). . Die Zukunft des Fernsehens lautet Internet (und umgekehrt)
2). . Fernsehen wird durch Smartphones und Tablets ortsunabhängig
3). . Fernsehen wird durch Streaming und On-Demand zeitunabhängig
4). . Dort, wo Live-Ereignisse noch Sendezeiten vorgeben (Breaking News, Wahlen, Sport etc.), wird das Fernsehen interaktiv und sozial
5). . Es gibt keine Unterscheidung mehr zwischen Neuen oder Alten Medien – nur noch Medien
Ihr seid dran! Ich freue mich auf Eure Ideen und Anmerkungen.
angenehm geschrieben….. es kann sich in diese Richtung entwickeln….. aber es geht um die Finanzierbarkeit für den „Empfänger“.
TV in seiner jetzigen Form kostet außer GEZ nichts, und deswegen läuft es immer und überall „mit“….
Ich freu mich auf die Next Generation des TV Bildes.
V.G.
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