Internet-Wahlkampf? Bullshit. Die Wahlen haben nicht nur FDP und Piraten vaporisiert, sondern auch die Wortführer bei Facebook, Twitter & Co verstummen lassen. Das Social Web – eine völlig überschätzte Filterblase? Oder ist am Ende doch alles komplizierter?

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2013 – Superwahljahr. Drüben in den USA hat Obama eben die zweite Amtszeit erkämpft, Big Data das neue Zauberwort. Aber auch bei uns hat sich was getan: 77 Prozent der Deutschen sind online, die Nutzungsdauer im Web ist geradezu explodiert. 90 Prozent der Bundestagsabgeordneten sind in Sozialen Netzwerken aktiv. Ein Drittel des Bundestags ist bei Twitter angemeldet. Der Eklat auf der Bundespressekonferenz 2011 darüber, dass das Kanzleramt Informationen neuerdings auch twittert, „die ja dann jeder lesen könnte“ – Anekdoten, wie aus einem anderen Universum. Jeder noch so unbedeutende Provinz-Politiker ist heute auf Twitter. Und was hat’s am Ende gebracht? Nichts. Gar nichts.

Was das Internet sagt

Verdutzte Gesichter am Wahlsonntag in den Redaktionsräumen, als die ersten Zahlen die Runde machen. Eine nahezu absolutistische Mehrheit für Merkel – dabei hat die noch nicht mal einen eigenen Twitter-Account (im Gegensatz zu ihrer Schlandkette). Die FDP draussen – und die AfD – wo kam die auf einmal her? Nur eine Woche vor der Wahl hatten die Meinungsforscher einer AfD 2 bis maximal 4,5 Prozent zugetraut. Wieso hatte die vorher keiner auf dem Radar? Und vor allem: Wo sind die Stars und Themen, die in den Sozialen Netzwerken bis zuletzt gefragt und meistens ungefragt die Diskussion bestimmten?

„Richard, was sagt das Internet?“ – „Wisst Ihr was?“ hätte ich meinen TV-Chefs gerne zurückgefaxt: Who cares! Woher soll ich das wissen? Wir schreiben doch auch nur bei den anderen ab!

Kreativität zahlt sich nicht aus

Was mich am fertigsten macht: Kandidaten, die mit öden Spots, Plakaten und Strategien angetreten sind, konnten bei der Wahl offenbar punkten. Kreative Web-Wahlkämpfe hingegen verliefen oft im Nirvana. Beispiel Landtagswahl Bayern. Woche um Woche ließ sich Thomas Pfeiffer, Kandidat der Bayerischen Grünen, Mini-Spiele oder interaktive Wahlkampfmotive und Mitmach-Aktionen einfallen. Umsonst. Pfeiffer hat den Einzug ins Parlament verpasst (Disclaimer: Ich bin mit Thomas Pfeiffer befreundet).

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(Tipp: Infografiken von Statista gibt es auch als RSS-Feed/ Newsletter – hier anmelden – Blogempfehlung: Hamburger Wahlbeobachter )

Umgekehrt postet das Wahlkampf-Team von Horst Seehofer via Facebook einfallslose Schmuckbilder und Plattitüden. Bürger-Fragen, die nicht ins Konzept passen, werden ignoriert, sogar gelöscht. Christian Ude, der auf seiner Facebook-Seite deutlich aktiver auftrat als sein Kontrahent, auch auf Fragen einging, blieb an der Wahlurne chancenlos.

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Das Platzen der Filterblase?

Was also bleibt übrig vom Gedöns rund um Liquid Democracy, 2.0-Kampagnen, dem Wunsch nach mehr Transparenz und Mitbestimmung durch das Netz? Wo genau verläuft die Linie zwischen (Selbst-) Anspruch und Wirklichkeit dieser neuen Kommunikationswege? Haben wir uns alle getäuscht, ist das Internet in Wahrheit irrelevant für den Ausgang von Wahlen?

Am mangelnden Interesse jedenfalls hat es nicht gelegen. „Wir haben einen deutlichen Anstieg gegenüber der letzten Bundestagswahl feststellen können“, so Wahl-O-Mat-Macher Martin Hetterich von der Bundeszentrale für Politische Bildung in Bonn. Mit 13,3 Millionen Abrufen gegenüber 6,7 Millionen Abrufen in 2009 haben sich die Nutzerzahlen nahezu verdoppelt. Ob das die Wahlentscheidung beeinflusst, wagt er nicht zu beurteilen. „Wie die Menschen am Ende ihre Entscheidung treffen, liegt vollkommen im Dunkeln“, so Hetterich, wirft hinterher: „Und wahrscheinlich ist das auch ganz gut so.“

Perfektes Zusammenspiel von Off- und Online 

„Das Netz hat noch nie eine Wahl entschieden“ sagt Christian Marx von politik-digital. „Noch nicht einmal bei Obama“. Worauf es ankomme, sei das perfekte Zusammenspiel von Online und Offline. „Wenn eine Partei ihren Haustürwahlkampf im Netz organisiert, wie will man das noch auseinanderhalten?“. Es ginge auch nicht darum, die meisten Follower zu haben, sondern die richtigen. Viele Politstrategen, die das Web als reines Marketingtool verstehen, hätten das noch nicht begriffen. „Das wichtigste technische Hilfsmittel im Wahlkampf ist nicht das Internet, sondern der Klingelknopf“, hatte SPD-Chef Gabriel prophezeit.

Was habe ich noch gelernt bei meinen Begegnungen und Gesprächen in den letzten Monaten?

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Suchtrends lügen nicht 

Wählerbefragungen von den großen Meinungsforschungsinstituten sind gut – aber nicht alles. Durch die Analyse von Google-Suchabfragen war es den Redakteuren von Politik Digital gelungen, selektive Stimmungen und Trends im Wahlvolk besser abzubilden, als das durch Infratest, Emnid & Co geschehen ist. Der Grund: Suchtrends lügen nicht. Während Wählerbefragungen meist klassisch über (Festnetz-) Telefon von Mensch zu Mensch durchgeführt werden, fühlen sich Internet-Surfer, die anonym im Netz nach Informationen suchen, weitestgehend unbeobachtet.

Dabei muss man nicht so weit gehen wie Nate Silver, der auf diese Art und Weise 2008 die Endergebnisse von 49 US-Staaten präzise vorhergesagt hatte. Ein Blick auf die Suchbegriffe am Wahlsonntag (bis 16 Uhr) hätte schon genügt, um zu wissen, dass die AfD unerwartet gut abschneiden dürfte. Noch einmal: Das macht Meinungsforschungsinstitute nicht obsolet. Big-Data-Analysen können aber dazu beitragen, bislang weiße Flecken auf der politischen Landkarte auszuleuchten.

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Personifizierung über alles

Für das Web gilt mehr noch wie im Fernsehen: Personifizierung über alles! Die Google-Suchanfragen im Netz nach „Snowden“ waren um ein Vielfaches höher, als nach „NSA“ oder „Prism“. Nicht Themen, Positionen oder Parteiprogramme, sondern die Personen entscheiden die Wahl. Je komplexer und abstrakter ein Gebiet, desto entscheidender ist der richtige Kandidat an der Spitze, der es verkörpert.

Während Merkel parteiübergreifend als gute Kanzlerin überzeugte, identifizierten sich SPD-Anhänger vor allem mit den Themen, nicht aber mit ihrem Spitzenkandidaten. Das gleiche Phänomen konnte man in Bayern bei Seehofer und Ude beobachten. Oder wie es ein Wahlkampf-Manager von US-Präsident Obama mir gegenüber einst auf den Punkt brachte: „Wir hatten ein gutes Produkt“.

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Das Neuland wird von der Zwischendrin-Generation beherrscht

Das Neuland wird nicht von den Digital Natives beherrscht, sondern, wie Thomas Knüwer es bereits in seinem Blog pointiert auf den Punkt gebracht hat, von jenen Alten, die noch überwiegend ohne Internet aufgewachsen sind. Ein Blick auf die Bevölkerungspyramide zeigt, dass das vermutlich auch noch für die nächsten beiden Bundestagswahlen der Fall sein wird. Dieses Klientel sitzt auf Vermögen, das es zu verteidigen gilt. Die „Zwischendrin“-Generationen 50- und 60-plus haben kein Interesse an Experimenten. Sie wissen, sie werden von den Vorzügen der neuen Technologien nicht mehr profitieren, zumindest nicht aktiv. Da immer weniger von ihnen Kinder haben, interessieren sie sich auch nur bedingt dafür, was nach ihnen kommt.

Schland-2013+

Persönlicher Ausblick

Beim Anblick der monolitisch-schwarzen Landkarte mache ich mir Sorgen: Ein Rückzug der konservativen Elite auf traditionelle Renten-Debatten, Polit-Talkshows über Autobahnmauts, statt über flächendeckende Probleme beim Ausbau der Datenautobahn. Mit abstrakten Netzthemen lassen sich keine Quoten machen, erst recht keine Wahlen gewinnen. Keiner hat das besser erkannt als Horst Seehofer. Für mich, und das meine ich durchaus ernst, der eigentliche Gewinner des Superwahljahres 2013.

Neue Hoffnung?

Marina Weisband von den Piraten sieht die Zukunft nicht ganz so schwarz: „Es darf nicht vergessen werden, dass es eine politische Landschaft außerhalb des Parlaments gibt“, so Weisband am Wahlsonntag bei mir im Google-Hangout. Ihre Hoffnung: Man könne auch als außerparlamentarische Opposition eine Menge erreichen.

So oder so: Zukunftsthemen wie Netzneutralität, Netzsperren und Datenschutz werden uns schon bald einholen, so wie Waldsterben, Klimaerwärmung und Tsunami das getan haben. Letzterer hatte sogar die Kraft, die eiserne Kanzlerin zu einem Kurswechsel zu zwingen. Was wohl noch alles passieren muss, bevor die Merkel-Republik die Digitale Wende ausruft?

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32 Kommentare
  1. […] die Grünen konnten nicht überzeugen. Einige Meinungen aus der Blogger-Welt zum Ausgang der Wahl: Wahlen 2013: Neuland ist abgebrannt Die Realität lässt sich die Zukunft nicht vom »Stern« vorschreiben Nach der Wahl: Über 15 % […]

  2. Uli schreibt:

    „Mit abstrakten Netzthemen lassen sich keine Quoten machen, erst recht keine Wahlen gewinnen.“

    Richtig, einfach auch weil es ein Randthema von vielen ist, auch wenn das viele nicht hören wollen. Wenn ich mir die Euro Politik ansehe, die fortschreitende soziale Spaltung, die Energiewende, dann geraten Themen wie die Netzneutralität einfach in den Hintergrund. Klar wäre ein Breitbandausbau schön, aber das macht vielleicht 5% meiner Wahlentscheidung aus und ich wähle sicher keine Ein-Themen Partei, die dann an der 5% Hürde scheitert.

    Netzpolitik gilt in den etablierten Parteien immer noch als „Gedöns“ und hat ungefähr den Einfluß von Schützenvereinen oder der Binnenschifffahrt. Wenn man sich ansieht wie gleichgültig die Wähler auf den NSA Skandal reagieren, muss man sich auch ehrlich fragen ob das Desinteresse der Parteien nicht gerechtfertigt ist. Merkels Energiewende kam auch erst, als tausende auf die Straße gegangen sind.

    • Richard schreibt:

      Und was machen wir jetzt?

      • Uli schreibt:

        Tja das ist die große Frage. Ich würde sagen, man sollte die eigenen Ansprüche gewaltig zurückschrauben und sich auf wenige vermittelbare Projekte und Themen beschränken.

        Kein Mensch versteht die Notwendigkeit einer Netzneutralität, die selbst in der „Netzgemeinde“ nicht unumstritten ist. Wir haben bis heute nicht einmal die Banken reguliert, die uns an den Rand einer Katastrophe getrieben haben, wieso sollte man da der Telekom ihre Tarife vorschreiben? Ja das wäre wünschenswert, aber fällt in die gleiche Schublade wie Vorschläge zu einem bedingungslosen Grundeinkommen oder der Abschaffung der Bundeswehr.

        Und was soll man eigentlich gegen die NSA unternehmen, wenn deren Verhalten von der US Regierung und Bevölkerung gedeckt wird? Wir schaffen es ja kaum unsere eigenen Geheimdienste unter Kontrolle zu halten, da ist es utopisch zu glauben wir könnten anderen Ländern Dinge vorschreiben. Das beste was man tun kann ist eine Debatte in ganz zu bringen und vielleicht in einer fernen Utopie ohne Geheimdienste zu leben.

        Realistisch könnte zum Beispiel ein Vorantreiben des Netzausbaus sein, dafür kann man mit gut und einfach mit Wirtschaftsfaktoren argumentieren. So lange sich aber die Hälfte der Aktivisten an der NSA Story aufreibt, ohne irgendeinen Fortschritt, bleibt das Thema in der Nische und man baut vielleicht lieber ein paar Betonautobahnen.

      • Musenrössle schreibt:

        Wir warten… bis irgendjemand die Datenbanken der NSA hackt… und dann sämtliche Sparkonten der Deutschen leerräumt und die Kohle nach China überweist ;-).

        Erst wenn die letzten Spargroschen geklaut,
        die letzten Strom- und Wassernetze zusammengebrochen sind
        und die letzten Atomkraftwerke hochgejagt wurden,
        werden die deutschen Michels begreifen, daß sie sehr wohl etwas zu verbergen haben ;-(…

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