Das Weihn@chtsmärchen als Web 2.0-Version. In der Hauptrolle: der Medientycoon Robert Murlock, der das Internet hasst und Besuch bekommt von 3 Geistern. Jeden Adventssonntag eine neue Folge – auch. zum Download. für den eReader unterwegs als PDF-eBook.
Als Murlock wieder aufwachte, war es so finster, dass er kaum das durchsichtige Fenster von den Wänden seines Zimmers unterscheiden konnte. Er bemühte sich, die Finsternis mit seinen Katzenaugen zu durchdringen, stieg aus dem Bett und tappte bis an das Fenster. Alles, was er gewahren konnte, war, dass es noch sehr nebelig und sehr kalt war, und dass man nicht den Lärm der hupenden Taxis oder der Polizeisirenen hörte. Zweifelsohne, es war tiefste Nacht hier in der Stadt, die niemals schläft. Doch wie spät war es wohl gerade in Tokio?
Er suchte nach der Fernbedienung. Konnte sie aber nirgends finden. Fluchend schritt er hinüber zum Fernsehgerät. Wie wild hämmerte Murlock auf den Schalter. Doch nichts regte sich. »Tot« murmelte er und verfiel wieder ins Grübeln. »Das Radio!« sagte er triumphierend und stapfte wehenden Rockes in den Salon.
Er sprang von Sender zu Sender. Doch welche Station er auch immer ansteuerte – überall das gleiche Lied: »Last Christmas«.
Murlock konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, hatte er sich doch bei Zeiten die Rechte an dem Song gesichert. Doch das Klingeln der Registrierkasse in seinem Kopf wurde auf einmal überdeckt von einem anderen Geläut, dem Klingeln einer Glocke. Dann vernahm sein lauschendes Ohr die Stimme des Börsenreporters. Tokio hatte soeben eröffnet.
»Es ist soweit!« rief Murlock freudig, »und weiter nichts!«
In demselben Augenblicke wurde es hell in dem Zimmer und die Lautsprecher-Kästen der Musikanlage begannen zu schwingen.
Ich sag‘ es euch, die Kisten stießen einen Ton aus, so grell, dass Murlock wie von einer unsichtbaren Wand erschlagen, nach hinten geschleudert wurde. Sich aufrichtend, blickte er dem unirdischen Gast in das Gesicht, so dicht stand er ihm gegenüber, wie ich jetzt im Geiste neben euch stehe.
Es war eine wunderbare Gestalt, gleich einem Kinde; aber doch eigentlich nicht gleich einem Kinde, sondern mehr wie ein Greis, der durch einen wunderbaren Zauber erschien, als sei er ohne Alter. Sein Haar, welches in langen Strähnen auf seine Schultern herabwallte, war weiß, wie vom Alter; aber doch hatte das Gesicht keine einzige Runzel und um das Kinn bemerkte man den zartesten Flaum. Die Arme waren lang und angespannt; die Hände ebenso, als liege eine ungeheure Kraft in ihnen. Seine Füße, zart und fein geformt, waren, wie die Arme, entblößt. Der Geist trug eine dünne Brille mit runden Gläsern und eine Tunika vom reinsten Weiß; und um seinen Leib schlang sich ein Gürtel von wunderbarem Schimmer. Er hielt eine Gitarre in der Hand; aber in seltsamem Widerspruch mit diesem Zeichen des Winters war das Kleid mit Sommerblumen verziert.
»Sind Sie der Geist, dessen Erscheinung mir vorhergesagt wurde?« fragte Murlock.
»Ich bin es.«
Die Stimme war sanft und wohlklingend und so leise, als käme sie nicht aus dichtester Nähe, sondern aus einiger Entfernung.
»Wer und was seid Ihr?« fragte Murlock, schon etwas mehr Vertrauen fassend.
»Ich bin John Lennon, Geist der Last Christmas, der vergangenen Weihnachten.«
»Last Christmas… war das nicht von …Wham?« entgegnete Murlock, seiner zwerghaften Gestalt zum Trotze.
»Wham. Oasis, Kravitz, die haben doch alle nur bei mir geklaut! Aber ich habe meinen Frieden gemacht mit diesen Song-Aggregatoren. Erst neulich sagte ich zu Yoko…«
»Was wollen Sie von mir?« unterbrach ihn Murlock wirsch.
»Richtig. Mein Auftrag…« Der Geist streckte seine Hand aus, als er dies sprach und ergriff sanft seinen Arm.
»Folge mir.«
Vergebens würde Murlock eingewendet haben, Wetter und Stunde sei schlecht geeignet zum Spazierengehen; das Penthouse sei warm und der Thermometer ein gutes Stück unter dem Gefrierpunkte; er sei nur leicht in Pantoffeln, Schlafrock und Nachtmütze gekleidet und habe gerade jetzt den Schnupfen. Dem Griff, war er auch so sanft, wie der einer Frauenhand, war nicht zu widerstehen. Er stand auf, aber wie er sah, dass der Geist nach dem Fenster schwebte, fasste er ihn flehend bei dem Gewande.
»Ich bin ein Sterblicher,« sagte Murlock, »und kann fallen.«
»Dulde nur eine Berührung meiner Hand dort,« sagte der Geist, indem er ihm die Hand auf das Herz legte, »und du wirst größere Gefahren überwinden, als diese hier.«
Als diese Worte gesprochen waren, schwanden die beiden durch die Wände und standen plötzlich im Freien, einer Gegend, die Murlock nicht kannte. Die Finsternis und der Nebel waren mit ihr verschwunden, denn es war jetzt ein klarer, kalter Wintertag und der Boden war mit weißem, reinem Schnee bedeckt.
»Brockton, Massachusetts. 1997.. Aber das ist gar nicht so wichtig.« bedeutete der Geist.
Sie schritten den Weg entlang und erreichten bald ein Haus mit einem alten Ford von undefinierbarer Lackierung in der Einfahrt. Es war ein großes Haus, aber jetzt vernachlässigt und verfallen, die Wände vergilbt, die Eingangsthür mitsamt dem Fliegengitter löchrig und zerfallen. Als sie in die verödete Hausflur eintraten und durch die offenen Thüren in die Zimmer blickten, sahen sie nur ärmlich ausgestattete, kalte Räume.
»Siehst Du den Jungen dort in dem Zimmer sitzen?«
»Der Kerl mit den Kopfhörern? Was tut der da?«
»Er will einer Schulkameradin ein Mixed-Tape schenken. Eine Kassette mit all ihren Lieblingssongs.«
»Hmm. Sowas hat man damals wohl gemacht.« erinnert sich Murlock dunkel. »Was ist denn jetzt los. Wieso macht er nicht weiter?«
»Er ist frustriert weil ihm so viele Titel fehlen.«
»Warum geht er dann nicht in ein Geschäft und kauft sie?«
»Es ist Sonntag,« sagt der Geist »das Einkaufszentrum hat schon lange zu. Außerdem: woher soll er die 100 Dollar nehmen, um die Songs zu bezahlen? Sieh Dich doch um: Die Leute hier leben von Sozialhilfe.«
»100 Dollar für ein paar lächerliche Songs, dummes Zeug! Wieso denn so teuer?«
»Weil es die Titel nur auf Compilations gibt. Zwei Hits, acht Nieten. Ist nicht so wie bei unseren Alben, wo noch jeder Track ein Knaller war!«
»Ich war auch mal verliebt« begann Murlock zu schwelgen. »Mehrere Male sogar.«
Der Geist lächelte milde und winkte mit der Hand. Dann sagte er: »Laß uns das nächste Weihnachten sehen.«
Die Szenerie um sie herum begann sich zu drehen wie ein Karussell. Als die Umgebung wieder still stand und Murlock seinen Schwindel überwunden hatte, standen sie, zu seiner Überraschung, immer noch am selben Ort.
»Derselbe Junge, ein wenig älter, wie mir scheint« sagte Murlock. »Hat er das Mädchen am Ende bekommen?«
»Ich fürchte nein, ein Anderer kam ihm zuvor. Dafür hat der Knabe jetzt viel Zeit für seinen Computer.«
»Er scheint mir guter Dinge. Was schreibt er denn da?«
»Er hat hat gerade den Code für Napster fertig gestellt.«
»Dieser Bengel hat Napster erfunden?« in Murlocks Blick fand sich eine Mischung aus Bewunderung und Verachtung.
»Dies sind die Schatten der Dinge, die einst gewesen sind,« erklärte der Geist.
»Die Schlacht ums Überleben . der gesamten Musikindustrie, die weltweiten Hausdurchsuchungen, die Schadensersatz-Prozesse, der ganze Bohey – nur wegen einer verschmähten Liebe?«
»Gibt es einen besseren Grund?« fragte der Geist zweideutig und zerrte Murlock, ohne eine Antwort abzuwarten, schon wieder fort.
Die beiden befanden sich jetzt in der Halle eines Gebäudes, das Murlock auf unangenehme Weise vertraut vorkam. Er spürte, er war hier schon einmal gewesen. Allerdings wirkte dieser Ort dennoch fremd und abstoßend auf ihn.
Trümmer aus Regalbrettern und CD-Hüllen lagen ihnen zu Füßen. Ratten huschten über den Boden. Als Murlock das Treppengeländer errreichte, sah er das übergroße Stoffbanner, das fahl von der Decke herabhing.
»Das kann nicht sein. Der Virginia Megastore am Times Square – das Flagship der gesamten Branche – geplündert und verlassen, wie ein Geisterschiff? s’ist absolut lachhaft!«
Der Geist war auf diesen Moment vorbereitet. Mit starrem Arme hielt er dem Ungläubigen einen Stoß Papier vor die Nase. »Lies!« befahl er.
»Ära der Musik-Ladengeschäfte schließt mit dem letzten Megastore« murmelte Murlock. »Juni 2009 soll das gewesen sein? Dummes Zeug!«
»Du wirst wohl Deiner eigenen Zeitung nicht etwa misstrauen?« foppte der Geist.
»Geist,« sagte Murlock, »zeige mir nichts mehr, führe mich nach Haus. Warum erfreust du dich daran, mich zu quälen?«
»Ich sagte dir, dass dieses Schatten gewesener Dinge wären,« sagte der Geist. »Gieb mir nicht die Schuld, dass sie so sind, wie sie sind.«
»Verlass mich, führ‘ mich weg. Umschwebe mich nicht länger.«
Murlock fühlte, dass er erschöpft sei und von einer unüberwindlichen Schläfrigkeit befallen werde und wußte, dass er in seinem eignen Schlafzimmer sei. Er gab dem Lichtauslöscher noch einen Druck zum Abschiede und fand kaum Zeit, in das Bett zu wanken, ehe er in tiefen Schlaf sank.
Kapitel 3 erscheint am 3. Adventssonntag, 13. Dezember
… hier geht es zu Kapitel 1
Was für eine brillante Idee und toll geschrieben. Bin restlos begeistert und kann die Fortsetzung kaum erwarten, und vor allem das Ende. Wie kann ein Happy End à la Scrooge und Dickens aussehen. Freigabe sämtlicher Medien? Murlock kauft Twitter und spendet für jeden Tweet 1 Cent in die Künstlersozialkasse? Sehr sehr spannend.
Freu mich auf die Folge morgen. Bis dahin schaut euch den @Christkindls Podcast an http://christkindl.wordpress.com (@gutjahr war da auf dem Schwabinger Christkindlmarkt, du magst Weihnachten wohl gern;)
lg der @isartom