Nach Essensfoto („Foodies“) grassiert im Netz eine neue Pest: Selfies. Warum wir uns selbst und unser Innerstes gerne zur Schau stellen und weshalb ich beschlossen habe, nicht mehr dagegen anzukämpfen.
Neulich traf ich mich mit Isabella zum Mittagessen – oder besser, zum „Lunch“, wie man in diesem Internet ja so schön sagt. Nach dem Studium Ende der Neunziger hatten Bella und ich uns aus den Augen verloren. Damals gab es noch keine sozialen Netzwerke, nur das „asoziale“ Netz, in dem man noch Pornos schauen konnte, ohne Angst vor deutschen Abmahnkanzleien haben zu müssen und in dem man ungestört Musik-Raubkopien tauschen konnte ohne von lästigen Selbstportraits oder Katzenvideos behelligt zu werden (Wie sehne ich mir diese guten alten Zeiten manchmal wieder herbei!).
Isabella hatte mich bei Facebook entdeckt und angefreundet und so haben wir uns ein paar Tage später zur Mittagspause verabredet. „Mensch, wie lange ist das her?“ herzen wir uns zur Begrüßung und mustern uns gegenseitig. „Du hast Dich ja überhaupt nicht verändert!“ flunkere ich. „Du Dich aber auch nicht!“, antwortet sie und irgendwie habe ich das Gefühl, sie meinte es genauso wie sie es gesagt hatte – was nicht zwingend als ein Kompliment verstanden werden muss.
Wir stoßen auf die alten Zeiten an und plaudern über das Übliche; was man eben so bespricht, wenn sich zwei Menschen lange nicht mehr gesehen haben: Berufliches, Beziehungsgeschichten, (Stunden-) Hotels, die WiFi auf dem Zimmer intervallgenau zu horrenden Preisen abrechnen.
Als das Essen kommt, zückt Isabella plötzlich ihr Telefon und beginnt damit, ihren Teller zu fotografieren. „Wozu ist das?“, frage ich. „Damit ich weiß, was ich so alles gegessen habe“. Aha, auf Diät also, denke ich und beiße mir gerade noch so auf die Zunge. „Das stelle ich dann später auf Facebook!“. Oh nein! Ich hätte es wissen müssen: Bella gehört zur Fraktion der Food-Fotografen! Solche Personen werden bei mir in der Regel ohne Vorwarnung entfreundet.
Kaum hatte ich die Foodie-Modewelle verdaut, naht auch schon die nächste digitale Pest: Selfies. Ein Selfie ist ein Foto, das man von sich selbst knipst, indem man sein Smartphone mit weit ausgestrecktem Arm vor sich und wahlweise weitere Menschen hält („Selfie plus“). In sozialen Netzwerken sind Selfies mittlerweile derart beliebt, dass der Begriff „Selfie“ vom Oxford English Dictionary zum Wort des Jahres 2013 gekürt wurde.
Spätestens seit dieser Woche, nachdem sich US-Präsident Obama beim Knipsen eines Selfies erwischen ließ, ist eine Debatte über eben diese Schnappschüsse ausgebrochen. Nicht über Selfies an sich, vielmehr über die Frage, ob es wirklich angebracht ist, ausgerechnet während einer Trauerfeier (hier: Nelson Mandela) ein Foto von sich feixend mit anderen Trauergästen zu knipsen. Die Tatsache, dass das eigentliche Foto später nirgendwo im Netz auftauchte, lässt vermuten, dass die First Lady ihrem Gatten nach der Zeremonie ordentlich die Leviten gelesen hat. Vermutlich musste der POTUS (President Of The United States) das Opus sogar von seinem Smartphone löschen, damit er ja nicht auf dumme Ideen kommt und das Bild am Ende doch noch twittert.
Vielleicht sollten wir lernen, toleranter zu werden gegenüber uns und unseren Mitmenschen. Foodies & Selfies gehören zum Digitalzeitalter wie Klimaerwärmung oder ein lustiger Klingelton während der Trauerrede. Darum habe ich beschlossen, nicht länger dagegen anzukämpfen sondern aus der Not eine Tugend zu machen. Wenn ich irgendwo eingeladen bin, achte ich stets darauf, ein handliches Teleskop-Stativ mit mir zu führen. Ruckzuck das Smartphone darauf montiert und dann aus 1,5 Metern Entfernung vor mir – hinter mir – über mir: Klick! Klick! Klick! Damit katapultiere ich die Kunstform des Selfies in ungeahnte Dimensionen! Sothebys wird sich eines Tages prügeln um meine Werke, wie um die Selbstportraits großer Meister. Ihr zweifelt?
Die Geschichte wird darüber urteilen.
Bei dem Obama-Selfie handelte es sich genau genommen um einen Thorning-Schmidt-Selfie. Die dänische Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt hatte ihr Smartphone gezückt, Obama & Cameron garnierten die Dame dann… Insofern müsste sich das nicht-veröffentlichte Bild auf ihrem Gerät befinden.
Ich wette die Dame hat Obama im Anschluss einen Abzug geschickt! Via Whatsapp. ;-)
Und in unbestimmter Zeit dann in Kunstkreisen „Ach, Sie haben also einen echten Gutjahr-Selfie gekauft? Mein Opa konnte den damals kostenlos in diesem „Internet“ anschauen..“ :D