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Um Syrien ist es still geworden in den Medien, und das obwohl die Kämpfe unvermindert weitergehen. Im Schatten des Krieges spielt sich ein unvorstellbares Flüchtlingsdrama ab. Vor ein paar Tagen bin ich ins jordanisch-syrische Grenzgebiet gefahren, um mir selbst ein Bild von der Situation zu machen. (for English Version click here)
Vor einer Woche um diese Zeit saß ich barfuß im Schneidersitz in einem kargen Zelt am Rande von Mafraq, Jordanien, 20 Kilometer südlich der syrischen Grenze. Mir gegenüber, gekleidet in einem schwarzen Gewand, Fatima, Syrerin sunnitischer Abstammung. Neben ihr sitzend, vier Kinder in bunten Pullovern. Ruhig und mit leiser Stimme erzählt die 38-Jährige ihre Geschichte.
Soldaten seien nachts in ihr Haus gekommen. Sie hätten ihren Mann des Terrorismus bezichtigt, ihn vor den Augen seiner Kinder mit dem Schaft ihrer Gewehre zusammengeschlagen. Sie drohten damit, die Kleinen zu erschießen, wenn diese nicht sofort aufhörten, zu schreien. „Und dann?“, will ich wissen. „Ich habe meinen Kindern befohlen, ihre Hände gegen den Mund zu pressen und still zu weinen.“
Flucht aus Homs
Noch in derselben Nacht seien sie geflohen, berichtet Fatima, raus aus der Stadt. Als sie nicht mehr konnten, klopften sie an ein Haus. Dort lebten Christen. „Sie nahmen uns auf, obwohl sie uns gar nicht kannten!“, erzählt die fünffache Mutter. Dankbarkeit in der Stimme. „Am nächsten Tag brachten sie uns dann mit einem Van zum Stadtrand.“ Von dort aus ging es über mehrere Stationen Richtung jordanische Grenze.
Nur wenige Stunden im Land ist mein Notizbuch gefüllt mit unfassbaren Berichten: die Geschichte von Fadia zum Beispiel, einer jungen Witwe aus Damaskus. Ihr Mann, erzählt sie, sei vor ihren Augen mit zwei Kopfschüssen exekutiert worden. Mit viel Glück schaffte sie es über die Grenze, um hier das gemeinsame Kind zur Welt zu bringen. Oder die Geschichte von Nedir, Informatik-Studentin aus Homs. „Irgendwann trauten wir uns nicht mehr zur Uni zu gehen, wegen der Heckenschützen“, so die 24-Jährige. Vor zwei Jahren wurde ihr Verlobter verhaftet. Seitdem habe sie nichts mehr von ihm gehört.
Größte humanitäre Katastrophe seit Ruanda
Es sind überwiegend Frauen und Kinder, denen man in den Auffanglagern entlang der Grenze begegnet. Bislang hat das Königreich Jordanien 560.000 Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. Das entspricht knapp einem Zehntel der Gesamtbevölkerung Jordaniens (Zum Vergleich: Deutschland beherbergt aktuell 15.000 Syrer). Rund eine Million der insgesamt 2,2 Millionen Flüchtlinge außerhalb Syriens sind Kinder. Das UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR spricht in einem Report von der größten humanitären Katastrophe seit dem Völkermord in Ruanda.
Obwohl Jordanien mit einem Bruttoinlandsprodukt von knapp 30 Milliarden Dollar zu einem der ärmeren Staaten im Nahen Osten zählt (kein Öl, keine Großindustrie), bleiben die Grenzen für die Flüchtlinge offen. Eine der ersten Anlaufstellen für die heimatlosen Syrer ist das Zaatari-Camp, eine Zeltstadt, die von den Vereinten Nationen unmittelbar hinter dem Grenzübergang aus dem Wüstensand gestampft wurde. 115.000 Flüchtlinge leben hier auf engstem Raum, zusammengepfercht wie Tiere.
Lagerkoller und Kinderarbeit
Auch Fatima hat hier knapp zwei Monate mit ihrer Familie ausgeharrt. Bis sie es nicht mehr aushielt. Die Krankheiten, die Langeweile. Es gab dort einfach nichts zu tun, erzählt sie. Irgendwann packten sie ihre Sachen und machten sich auf in das östlich gelegene Mafraq, wo sie ihr UN-Flüchtlingszelt auf einer freien Fläche vor den Toren der 60.000-Einwohner-Stadt aufschlugen. Auf meiner Reise durch Jordanien bin ich noch einigen dieser weißen Zelte begegnet, die links und rechts entlang der Straßen mitten in der Landschaft stehen.
70 Prozent der Flüchtlinge machen es wie Fatima, suchen ihr Glück außerhalb der Lager. Die Menschen zieht es in Städte wie Mafraq, Irbid oder Amman, um dort ein festes Dach über dem Kopf zu suchen, eine Beschäftigung, um wenigstens ansatzweise ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Die Realität sieht anders aus. Jordanien ist ein teures Land. Die Kosten für Mieten und Nahrungsmittel entsprechen unseren Euro-Preisen in Deutschland. Weil die Flüchtlinge selbst nicht arbeiten dürfen, sind es oft die Kinder, die heimlich für den Lebensunterhalt sorgen (UN-Bericht).
Vom Anwalt zum Bittsteller
Ortstermin im CARE-Flüchtlingszentrum von Mafraq. Hier sind die „Case-Manager“ gerade damit beschäftigt, die Neuankömmlinge zu erfassen. Mamdouh ist an der Reihe. In seinem früheren Leben war der 38jährige Familienvater ein angesehener Anwalt. Das war damals, vor einem Jahr. Jetzt sitzt er hier im Flüchtlingszentrum auf einem billigen Plastikstuhl und ist Bittsteller. Er erzählt von den Massentötungen in seiner Heimat und von der tagelangen Flucht quer durch die Wüste. Tränen laufen über das Gesicht.
Helft uns – egal wie!
Heute hat Mamdouh Glück. Auf der Bedürftigkeitsskala der Flüchtlingsorganisation ist er eine „15“. Damit qualifiziert er sich für eine finanzielle Unterstützung in Höhe von 130 Jordanischen Dinar, etwa 135 Euro. Die erhält er nicht etwa bar auf die Hand, sondern in Form einer Geldkarte mit PIN-Nummer. Sicher ist sicher. Bis zu dreimal könne er Geldleistungen beantragen, erklärt Johanna Mitscherlich, CARE-Mitarbeiterin aus Deutschland. Danach seien er und seine Familie auf sich gestellt.
Was sich Mamdouh von reichen Ländern wie Deutschland wünscht? „Hilfe, egal welcher Art“, sagt er „Ihr dürft uns nicht vergessen!“. Auch die jungen Freiwilligen hier im Hilfszentrum, allesamt selbst syrische Flüchtlinge, bitten um mehr internationale Anteilnahme: Stipendien oder Studienplätze im Ausland, das wäre großartig, sind sich alle einig. Wenn der Krieg eines Tages vorbei sein sollte, stünde eine ganze Generation von Syrern völlig ohne Ausbildung da. Damit würde der Krieg für sie ein Leben lang weitergehen.
Der Zorn Gottes
Zurück im Flüchtlingszelt von Fatima am Stadtrand. Die Vertriebene hat in den letzten Wochen damit begonnen, die Innenseite ihres Zeltes mit zusätzlicher Plastikfolie abzudämmen. Der Winter steht vor der Tür. Schnee inklusive. Elektrizität oder einen Ofen gibt es nicht, nur Wolldecken. „Nicht in meinen wildesten Träumen hätte ich mir dieses Leben jemals vorstellen können“, klagt sie. Ob sie überhaupt wisse, worum es in diesem Krieg geht, will ich wissen. „Ich habe keine Ahnung“, sagt sie. „Vielleicht war Gott zornig?“.
Wo ihr Mann sei, möchte ich zum Abschied wissen. Fatima hebt ihren Zeigefinger und deutet auf das Metallgerüst des Zeltes, zwei Meter über uns. Ein Schauer läuft mir über den Rücken, noch bevor die Dolmetscherin mit der Übersetzung fertig ist. „Meine Kinder haben ihn dort gefunden“, sagt sie. „Erhängt.“ Krank sei er gewesen und verzweifelt, weil er seine Familie nicht mehr ernähren konnte. Er habe keinen Ausweg mehr gesehen und sich das Leben genommen. Aus Scham.
Wer die Arbeit von CARE unterstützen will – hier die Spendenseite für Syrien. Die Mitarbeiter vor Ort berichten über ihre Arbeit in diesem Blog. Über diese Seite kann man Geld für das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen spenden. Laufend aktualisierte Zahlen, Tabellen und Berichte von der UNHCR gibt es hier.
‚Wie Europa 2 Millionen Flüchtlingen aus Syrien hilft‘ – Eindrückliche Grafik http://greenmediabox.eu/syrianrefugees
Tolle Grafik. Danke für den Link! Kannte ich nicht.
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