Der Bundestagswahlkampf 2017 war vielleicht der letzte Wahlkampf in Deutschland, der noch über TV-Talkshows und Plakate entschieden wurde. In Zukunft werden Internet und Smartphone die primäre Arena sein, auf der sich die Parteien behaupten müssen. Was bedeutet es für die Politik, wenn die Massenmedien immer mehr den Medien der Massen weichen?
Das 21. Jahrhundert hat gerade erst begonnen, und wir befinden uns im Krieg. Gemessen an der Zahl der Kombattanten, handelt es sich um den mit Abstand größten Krieg in der Geschichte der Menschheit. Keine Schlacht im herkömmlichen Sinn. Kein Kampf, der mit Schwertern, mit Gewehren oder Bomben ausgetragen wird, sondern mit vernetzten Taschencomputern, unseren Telefonen. Es ist ein Krieg um Worte, um Likes, um Shares und Retweets. Oder anders ausgedrückt: ein Kampf um Aufmerksamkeit, um Deutungshoheit, um Macht und Einfluss.
Ein einziger Tweet kann Karrieren, sogar Leben zerstören.
Vor fast 200 Jahren prägte der britische Schriftsteller und Politiker Edward Bulwer-Lytton (Die letzten Tage von Pompeji) den Ausspruch «The pen is mightier than the sword» – die Feder ist mächtiger als das Schwert. Gemessen daran käme die Macht jedes gewöhnlichen Smartphones heute einem thermonuklearen Sprengkopf gleich. Wie der Flügelschlag eines Schmetterlings reicht theoretisch ein einziger Tweet, um einen globalen Shitstorm auszulösen, um Aktienmärkte ins Wanken zu bringen, um Karrieren, ja sogar Leben zu zerstören.
Moralische und ethische Leitplanken drohen zu erodieren wie die Institutionen selbst, die sie einst etablierten. Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und Verbände leiden unter einem bemerkenswerten Bedeutungsverlust, der sich nicht nur an den sinkenden Mitgliederzahlen festmachen lässt. Ein schon länger anhaltender Trend, der sich mit dem Aufkommen der sozialen Netzwerke noch einmal beschleunigt hat.
Der Arabische Frühling währte nicht einmal bis zum Sommer.
Mehr Teilhabe, mehr Mitbestimmung, eine bessere Welt – nicht weniger als das haben sich Google und Facebook auf die Fahnen geschrieben. Doch mit den Verheissungen der digitalen Gesellschaft kam auch der Schatten. Der Arabische Frühling währte nicht einmal bis zum Sommer. Auf die Facebook-Revolution folgte noch mehr staatliche Überwachung. An die Stelle von Staatsbündnissen und offenen Grenzen traten Nationalismus und Protektionismus. Nicht nur in Ländern wie Russland oder in der Türkei ist die Sehnsucht nach einem starken Mann allgegenwärtig.
Nach der Präsidentschaftswahl in Österreich, den Wahlen in den Niederlanden und Frankreich könnten wir uns zurücklehnen und sagen: Die gemäßigten Kräfte haben gewonnen, Europa ist mit einem blauen Auge davongekommen.
Sind wir wirklich immun gegen ein Deutsches Reich 4.0?
Doch was, wenn Brexit, Trump und Erdogan nur das Vorbeben waren für den eigentlichen Tsunami, der uns noch bevorsteht? Wenn mit der voranschreitenden Automatisierung unserer eher traditionell geprägten Industrie eine Massenarbeitslosigkeit ungekannten Ausmasses droht? Wenn Jobverlust, gepaart mit dem Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden, in Frust und Wut umschlägt? Sind wir wirklich immun gegen ein Deutsches Reich 4.0?
Unsinn, halten die Demoskopen und Meinungsforscher dagegen und verweisen auf ihre Zahlen. Als Journalist, der den Trump-Sieg letztes Jahr hat kommen sehen und der die darauf folgende Schockwelle unmittelbar im Epizentrum von Washington D.C. miterlebt hat, gehöre ich zu den Skeptikern. Möge unsere Welt an der Oberfläche noch in Ordnung sein, an der Basis brodelt es gewaltig. Allein auf Facebook kommt die Alternative für Deutschland auf eine beeindruckende Anzahl von über 300 000 Fans, mehr als die beiden größten deutschen Volksparteien CDU und SPD zusammen. Wie sähe wohl das Wahlergebnis aus, dürften die Deutschen direkt vom digitalen Stammtisch aus mit ihrem Smartphone abstimmen?
Möge unsere Welt an der Oberfläche noch in Ordnung sein, an der Basis brodelt es gewaltig.
Das Buch Smartphone-Demokratie von Adrienne Fichter, aus dem dieses Vorwort stammt (s.u.), ist ein wichtiges Buch. Es ist der Versuch, den Phänomenen einer noch jungen und unerforschten Welt nachzugehen, die Kräfte und Prozesse sichtbar zu machen, die im Hinter- grund unserer vernetzten Kommunikation wirken. Wieso sind Populisten im Netz so erfolgreich? Helfen Faktenchecks gegen Manipulation und Desinformation? Wie funktioniert der Wahlkampf im Netz und welchen Einfluss haben Bots und Big Data? Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes zählen zu den Pionieren auf ihrem Gebiet. Ich verfolge ihre Arbeit schon länger und kann mich glücklich schätzen, einige von ihnen inzwischen auch jenseits des Bildschirms, persönlich kennengelernt zu haben.
Die Demokratie sei die schlechteste Staatsform, mit Ausnahme all der anderen, die probiert worden sind, sagte Winston Churchill 1947 in einer Rede vor dem britischen Unterhaus. Das Gleiche könnte man heute über das Internet und die sozialen Netzwerke postulieren. Ein Smartphone, so mächtig es auch immer sein mag, ist per se nicht gut, nicht böse. Es ist da, und es kommt darauf an, wofür wir es benutzen. Oder wie es einst ein großer Philosoph auf den Punkt brachte: «Aus großer Macht erwächst große Verantwortung.» Nicht Kant, nicht Hegel oder Schopenhauer – dieser Satz stammt aus Spiderman.
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch Smartphone-Demokratie, das in diesen Tagen beim NZZ Libro Verlag erschienen ist.
[…] Quelle: » Willkommen in der Smartphone-Demokratie | G! gutjahrs blog […]
Danke für die absolut sinnvollen Anregungen. Die zentrale Frage bleibt: Wie sollten die Anreize und Mechanismen aussehen, die denjenigen, die mit ihren Netzen Geld verdienen, das Bewusstsein für ihre Verantwortung deutlich zu machen? Und wer kümmert sich um die zu Recht aufgeworfene Frage, wie unsere Gesellschaft sozial und mental aufgestellt sein wird, wenn es viele unserer Arbeitsplätze nicht mehr geben wird. Wer kümmert sich um solche Fragen, die Politiker, die Kirchen….? Wer fängt an, das auf breiterer Ebene einzufordern? Da scheint das Buch immerhin ein guter Beitrag.