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Google hat die Privatmails, IP-Adressen und Kontakte von Journalisten an US-Behörden weitergegeben. Heimlich und ohne erkennbare Gegenwehr. In der westlichen Welt bildet sich eine unheilvolle Allianz aus privaten Datensammlern und außer Kontrolle geratenen Geheimdiensten. Wenn wir nicht gegensteuern, könnte es bald zu spät sein.
Der jüngst bekannt gewordene Vorfall von Datenverrat ist alles andere als harmlos. Einen Tag vor Heilig Abend wurden WikiLeaks-Mitarbeiter von Google darüber informiert, der Internet-Konzern habe dem FBI im Jahr 2012 zigtausende E-Mails und Verbindungsdaten ausgehändigt. Allein im Fall des isländischen Enthüllungsjournalisten und WikiLeaks-Sprechers Kristinn Hrafnsson soll es sich dabei um 43.000 Mails gehandelt haben. Hinzu kommen Metadaten, Kontaktadressen, Mailentwürfe sowie login-IP-Adressen in noch unbekanntem Umfang (NDR-Interview mit der betroffenen WikiLeaks-Mitarbeiterin Sarah Harrison).
Das Problem hinter deratigen Anordnungen: Sie werden von einem Geheimgericht erlassen. Die Betroffenen erfahren in der Regel nichts davon und können sich deshalb auch nicht zur Wehr setzen. Begründet werden solche Eingriffe in die staatlich garantierten Grundrechte der amerikanischen Verfassung mit dem sogenannten United States Espionage Act. Kein Präsident hat bisher häufiger Gebrauch von diesem (Kriegs-) Gesetz gemacht als die Regierung von Barack Obama.
Ausgerechnet Google beugt sich dieser Anordnung, um eine Institution zu verraten, deren Verbrechen darin besteht, Informationen zu sammeln und der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Ausgerechnet Google, jenes Unternehmen, das wie keine andere Einrichtung systematisch in unsere Gehirne eindringt, unsere Interessen und Vorlieben ausliest, Bewegungsmuster auf Straßen, demnächst auch in unseren Heimen erstellt, um sprichwörtlich jeden unserer Schritte vorhersagen zu können. Ausgerechnet Google liefert ohne erkennbare Gegenwehr Journalisten ans Messer, wegen – oh Ironie – Spionage?
Auf meine Fragen zum aktuellen Fall hat Google-Sprecher Kay Oberbeck soeben geantwortet:
„Grundsätzlich informieren wir unsere Nutzer darüber, wenn staatliche Stellen Anfragen auf Herausgabe ihrer Daten an uns richten. Es gibt Ausnahmen, in denen wir durch eine gerichtliche Anordnung an einer solchen Information gehindert werden. Dies kommt leider häufig vor. Wir haben bereits viele Anfragen mit Bezug auf Wikileaks angefochten. Dies hat dazu geführt, dass betroffene Personen über die Anfragen in Kenntnis gesetzt wurden. Wir setzen uns mit Nachdruck dafür ein, alle Untersuchungsberichte in diesem Fall offen zu legen. “
Google als Opfer höherer Gewalt? Ganz so wehrlos, wie Kay Oberbeck das hier darstellt, ist man natürlich nicht. Mit rund 400 Milliarden Dollar Marktwert zählt Google zu den größten und einflussreichsten Konzernen der Welt. In Washington gibt der Netz-Riese mehr Geld für Lobby-Arbeit aus als Apple, Facebook, Amazon und Microsoft zusammen und lässt damit sogar große Rüstungskonzerne alt aussehen.
Widerstand ist möglich
Mit soviel Markt-, Lawyer- und Lobby-Power wäre es für den Giganten durchaus möglich, Druck auf Kongress und Senatoren auszuüben, dem Datenhunger der Geheimdienste Einhalt zu gebieten. Angeblich setze man sich für eine Überwachungsreform ein, so Google-Sprecher Oberbeck. Ob ernst gemeintes Anliegen oder schöner PR-Gag ist dabei schwer auszumachen.
Tatsächlich ist auch Google schon oft gegen National Security Letters und Maulkörbe vorgegangen, nachdem das bereits weitaus kleinere Firmen vorgemacht hatten. So leistet Twitter bis zum heutigen Tag erheblichen Widerstand gegen geheime Datenanfragen. Auch andere IT-Anbieter haben Prozesse geführt, manchmal sogar bis zum finanziellen Ruin, um die Daten ihrer Kunden zu schützen. Zu den spekatkulärtesten Fällen gehören Lavabit und Calyx Web Services, die ich letztes Jahr in diesem Blog dokumentiert habe.
Die Rolle der Medien
Während Google die Verantwortung also auf den Staat schiebt, wird in Journalistenkreisen diskutiert, ob es sich bei den betroffenen WikiLeaks-Mitarbeitern überhaupt um richtige Journalisten handelt. Wer bitte legt denn fest, wer Journalist ist? War nicht genau das eine der wichtigsten Lehren aus dem Dritten Reich, den Journalistenbegriff möglichst weit zu fassen, um ihn staatlicher Kontrolle zu entziehen? Und hat die Weltpresse mit WikiLeaks nicht nur allzu gerne zusammengearbeitet als es darum ging, süffige Schlagzeilen zu produzieren?
Mut und Ausdauer
Man muss Julian Assange nicht mögen, genauso wenig wie man Witze über den Papst oder den Islam lustig finden muss. Hier geht es um Fragen von Pressefreiheit und journalistischer Integrität. Das verschämte Wegschauen der großen Leitartikler im Umgang mit WikiLeaks offenbart die Doppelzüngigkeit westlicher Medien. Gegen spektakuläre Morde Flagge zu zeigen, ist leicht. Sich gegen die unsichtbaren Kräfte der eigenen Regierung zu stellen, nicht locker zu lassen und nicht einfach wieder zur Tagesordnung überzugehen (Ebola! Pegida! Europa!), erfordert Haltung, Mut und vor allem Ausdauer.
Immerhin hat der Chefredakteur der New York Times inzwischen eingestanden, bei der Berichterstattung nach dem 11. September versagt zu haben. Seine Zeitung habe sich nur allzu oft von Regierung und Geheimdiensten einschüchtern lassen. Ein Anfang. Wo aber bleibt der Aufruf des BDZV gegen Vorratsdatenspeicherung und der voranschreitenden Aushöhlung des Informatenschutzes? Wo bleibt die groß angelegte Kampagne, wie man sie damals rund um Google News inszenierte, um dem Bundestag das Leistungsschutzreucht abzunötigen? Zählen Werte nur dann, solange sie der eigenen Wertschöpfung dienen?
Nicht Islamisten, nicht die Spinner von Pegida sind das Problem. Die größte Bedrohung für Demokratie und Pressefreiheit kommt ohne Kalaschnikow oder Pappschild. Sie formiert sich stillheimlich im Verborgenen. Jenes sich anbahnende Public-Private-Partnership aus IT-Wirtschaft und einer sich der parlamentarischen Kontrolle entzogenen Geheimdienstmaschinerie. Wenn wir diese unheilvolle Allianz nicht bald in die Schranken weisen, wer will sie morgen noch stoppen?
Meinungen?
Wen sollte diese Peanut denn in Anbetracht der Ukraine Krise mit neuem Kalten Krieg, IS, Syrien, Ebola, weltweitem Terror, Eurokrise, Nahostgefahr, Jugendarbeitslosigkeit in den EU Problemstaaten und, und, und… interessieren? Overloaded wie wir alle sind?
Mich.
Mich auch. Und wir sind eigentlich viele. Markus trifft aber den Punkt: die Schnüffelei tut weniger weh als viele andere Probleme. Ohne spürbare Betroffenheit wenig Engagement. Sollte sich das eines Tags ändern, wird’s allerdings wirklich verdammt unlustig, weil die Schlupflöcher dann fehlen. 1984? Niedlich!
Aha.
Mit Relativismus dieser Gestalt, lässt sich jedes Unrecht zumindest scheinbar rechtfertigen oder in ein weicheres Licht rücken. Ich bin kein Freund der Überzeichnungen, aber wer dieses „Realtivismusroulette“ weiterspielt, kann diesen Hebel an jeder beliebigen menschenverachtenden Entität abarbeiten – bis sich jede Schandtat mit einer noch verächtlicheren vermeintlich „rechtfertigen“ oder abschwächen lässt.
Vergleiche und Relativierungen sind hier sowas von fehl am Platz. Mich interessierts, denn ich nutze Google taeglich.
Man kann alles relativieren. Jede Ungerechtigkeit kann man mit einer noch größeren Ungerechtigkeit klein reden. Aber irgendwo muss man anfangen. Und anstattz auf kurzfristige Skandale (Charlie Hebdo) zu stürzen, finde ich es sehr gut von Richard sich um diese schleichende Enteignung von Bürgerrechten zu kümmern und darüber zu berichten.
Angesichts von Ukraine, IS, Syrien, Ebola und Terror betrifft MICH das übrigens auch.
Zwischen den großkalibrigen Weltproblemen und der scheinbar kleinformatigen Untat, Aufdeckungsjournalisten lahm zu legen, besteht ein ziemlich geradliniger Zusammenhang. Es geht in den USA wie überall sonst, wo scharf geschossen wird, stets darum, dass die Öffentlichkeit über das wirkliche Geschehen nur schlecht informiert wird.
Was schlechtes Informiertsein für Folgen haben kann, sehen Sie ja gerade am IS. Diese Terrormacht hat ihren Usprung im Irak-Krieg II, und der wurde hinter der Sichtwand einer systematisch manipulierten Öffentlichkeit arrangiert. Oder anders gesagt: Es geht ja nie um die Journalisten, es geht um das, wobei sie stören.
in diesem Zusammenhang empfehle ich Tom Hillenbrand´s Buch Drohneuland, in dem er einen mitreißenden Krimi über unsere Zukunft im Überwachungsstaat beschreibt und mich bei vielen Passagen aufgrund dem bereits so nahen möglichen Morgen erschaudern liess.
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/krimi-im-ueberwachungsstaat-drohnenland-riecht-angebrannt-13010511.html