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Der PC hat seine besten Jahre hinter sich – und mit ihm möglicherweise auch Microsoft, sollte es dem Softwarehaus nicht gelingen, sich neu zu positionieren. „Mobile first, cloud first!“, so die Vorgabe von Satya Nadella, der vor vier Wochen als neuer CEO das Zepter in Redmond übernommen hat. Ein Stimmungsbericht aus der Konzernzentrale.
Es sind wichtige, vielleicht sogar entscheidende Tage hier in Redmond im US-Bundesstaat Washington, eine halbe Autostunde östlich von Seattle gelegen. Das Schicksal des gesamten Unternehmens könnte von den nächsten Weichenstellungen abhängen. Seit vier Wochen hat Microsoft einen neuen Kapitän; Satya Nadella, der dritte CEO in der fast 40jährigen Geschichte des Softwaregiganten. Der 46jährige aus Indien stammende Nadella steht vor einer gewaltigen Aufgabe: Das gesamte Haus muss umgekrempelt werden, ohne dabei das klassische Firmen- und Großkundengeschäft zu vernachlässigen, welches dem Unternehmen noch immer üppige Gewinne beschert (siehe Chart).
Zugleich soll das Haus in einen Konzern für mobile Geräte und Cloud-Dienstleistungen verwandelt werden. Mit seinem Betriebssystem für Smartphones liegt Microsoft derzeit abgeschlagen auf dem 3. Platz, der Marktanteil bei Tablets beträgt gerade mal 2 Prozent.
Nur wenige Tage im Amt, da rollen in Redmond bereits die ersten Köpfe. „We need to drive clarity, alignment and intensity across all our work.“ schreibt der neue CEO seinen Mitarbeitern ins Stamm-Blog und kündigt weitere Veränderungen im Führungsteam an. Nadella, der den Tanker MS Microsoft mitsamt seiner 100.932-Mann-starken Besatzung in ruhigere Gewässer führen muss, will offenbar keine Zeit verlieren.
Mein Besuch in der Konzernzentrale war schon länger geplant. Dass er ausgerechnet jetzt, in die ersten Tage unmittelbar nach der Zepterübergabe fällt, war Zufall.
Willkommen bei Microsoft!
Es ist ein für diese Jahreszeit ungewöhnlich sonniger Tag, als ich auf dem Campus eintreffe. Eine Microsoft-Mitarbeiterin aus Deutschland begleitet mich, zwei weitere Damen aus der US-Public Relations-Abteilung werden folgen. Das Trio liest mir jeden Wunsch von den Augen ab: Ob ich einen Kaffee brauche, ein Wasser oder vielleicht eine Bio-Break? („Bio-Break“, die neueste politisch korrekte Bezeichnung für einen WC-Besuch.) Über mangelnde Aufmerksamkeit während der bevorstehenden beiden Tage bei Microsoft kann ich mich jedenfalls nicht beklagen.
Mein erster Eindruck ist positiv. Das Gelände, das die Fläche einer mittleren Kleinstadt einnimmt, erscheint durch seine großzügigen Sportanlagen, Grünflächen und künstlich angelegte Seen offen und weitläufig. Überall auf dem Campus Automaten mit Gratis-Snacks und Cola. Bunte Fahrräder wie bei Google sucht man hier vergeblich. Um die teils nicht unerheblichen Strecken zwischen den Gebäuden zu überbrücken, sind rund um die Uhr Shuttle-Busse und -Autos im Einsatz. Benzin betrieben – nicht Elektro. Die Autos der Angestellten hingegen sieht man nicht. Sie stehen in einem unsichtbaren Parkhaus, die größte unterirdische Parkgarage der USA, mit Platz für 4650 PKW verteilt auf 4 Ebenen.
Don’t look back
Wir sind in der MS Library, der hauseigenen Bibliothek. 54.000 gebundene Bücher sind hier gelagert, von Business-Titeln wie „The Myths About Creativity“ bis hin zu Führungskräfte-Ratgebern „The Strategy of Execution“. Bei den abgenutztesten Buchrücken jedoch handelt es sich um Programmier-Handbücher, die gleich in mehrfacher Ausführung im Regal stehen. Von unterwegs haben die Microsoft-Mitarbeiter Zugriff auf 25.000 eBooks sowie auf Dutzende professionelle Business- und Industrie-Datenbanken.
In einer Vitrine am hinteren Ende des Lesesaals stehen keine Sport-Pokale, sondern Verpackungen früherer Windows- und Office-Pakete. Die Schachteln vergilbt, wie Relikte aus einer anderen Zeit. Ob es auf dem Gelände auch ein Museum gibt, will ich wissen. Nein, so die PR-Frau an meiner Seite. Microsoft sei nicht besonders gut darin, zurückzublicken. „Wir konzentrieren uns auf die Zukunft“.
Das Internet verschlafen
Solche Sätze klingen natürlich erst einmal gut, man will sich also nicht auf früheren Erfolgen ausruhen. Dahinter steckt aber auch die bittere Erkenntnis, dass das Unternehmen irgendwann mal auf dem Weg ins neue Jahrtausend den Anschluss verloren hat. Während die Big Four, also Apple, Google Facebook und Amazon im vergangenen Jahrzehnt einen Rekord nach dem anderen feierten, scheint Microsoft als fünftes Rad am Wagen in den 90er Jahren stecken geblieben zu sein.
Das berühmte Zitat, das Bill Gates zugeschrieben wird, „The Internet is just a passing fad“ – das Internet, eine „vorübergehende Erscheinung“, hält sich trotz fehlender Quellenangabe hartnäckig. Tatsächlich hat der Microsoft-Gründer 1998 zugegeben, die Wucht des Webs unterschätzt zu haben:
„Sometimes we do get taken by surprise. For example, when the Internet came along, we had it has a fifth or sixth priority.“
Bill Gates, 1998
Embrace, extend and extinguish
Mit wettbewerbswidrigen Methoden war es Microsoft gelungen, Konkurrenten wie Netscape plattzumachen und PC-Nutzern weltweit seinen Internet-Explorer aufzuzwingen. Diese als Embrace, extend and extinguish bekannt gewordene Microsoft-Taktik ist ein fragwürdiges Beispiel dafür, was passiert, wenn ein Unternehmen versucht, mangelnde Innovationskraft durch Marktmacht zu ersetzen.
Auch das Thema Mobile und Cloud-Services hat Microsoft verschlafen. Als Steve Jobs im Januar 2007 das iPhone aus dem Zylinder zog, fiel Microsoft-Boss Ballmer nichts besseres ein, als das Apple-Produkt zu verhöhnen (siehe Video).
Satya soll aufräumen
Wie oft kann man es sich leisten, Trends von derartiger Tragweite zu übersehen? Wie viele Flops wie den 2011 beerdigten mp3-Player Zune, das Betriebssystem Windows Vista oder zuletzt das 900-Millionen-Dollar Desaster rund um den Tablet-PC Surface kann Microsoft noch abfangen? Man möchte nicht in den Schuhen von Satya Nadella stecken.
„Satya [gesprochen: Sadschia] is great!“ jubeln die Microsoft-Mitarbeiter beim Lunch, als ich sie auf den neuen Boss anspreche. Satya kenne das Haus und weiß wie es tickt, so eine der drei PR-Damen, die mich betreuen. Eine Kollegin stimmt mit ein: „Und dann bringt er natürlich unglaublich viel Know-How mit, vor allem was Netzwerke und Cloud-Services betrifft“. Man werde hier auf dem Gelände niemanden finden, der etwas Schlechtes über Nadella sagen könnte, versichern sie.
So richtig überprüfen lässt sich das natürlich nicht, denn meine Begleitungen lassen mich während der beiden Tage keine Minute unbeobachtet. Besonders nervös scheinen sie zu werden, jedes mal, wenn ich mich von ihnen absetze, um Fotos zu machen oder wenn ich spontan ein paar Worte mit irgendwelchen Angestellten wechsle.
Um fair zu bleiben: Bei der hippen Konkurrenz aus Mountain View und Cupertino wären Einblicke, wie sie mir Microsoft hier gewähren, ganz und gar undenkbar. Glaubt mir, ich weiß, wovon ich rede.
Der Campus und seine Bewohner
42.940 Mitarbeiter sind in der Zentrale von Redmond auf über 100 Gebäude verteilt. Das Durchschnittsalter liegt bei 38,4 Jahren – also 10 Jahre älter als bei Facebook (= 28) oder bei Google (= 29). Grob lässt sich die Microsoft-Belegschaft in zwei Gruppen unterteilen: Entwickler und Marketing; am leichtesten dadurch zu unterscheiden, dass die Marketingleute ihr Hemd gerne in den Hosenbund stecken.
Sollte man auf dem Gelände zufällig mal einer Frau begegnen, kann man mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass sie zum Marketing gehört. Microsoft ist zu 75,7 Prozent männlich, im Entwicklerbereich liegt die Quote sogar deutlich darüber. „Die Typen hier sind smart“, sagen die Marketing-Frauen. „Super-smart sogar. Schachmeister, Jugend-forscht-Gewinner, diese Art von smart.“
Die Sportplätze, denen wir bei unserem Rundgang begegnen, bleiben meist unbenutzt. Zu den beliebtesten Sportarten zählen nämlich Schach, Ping Pong und Curling. „Wenn hier doch mal Basket- oder Volleyball gespielt wird, kannst Du Dir sicher sein, dass die Jungs dabei die ganze Zeit übers Coden sprechen.“, scherzt eine Mitarbeiterin. Echte „Jocks“ (Sportskanonen) habe sie hier noch nicht gesehen, klagt eine Andere. Und sie arbeite schon seit über 10 Jahren bei Microsoft.
Das inoffizielle Haus-Ranking
Marketing und Entwicklung sind in einzelne Divisions unterteit, die dafür bekannt sind, dass sie sich auch ganz gerne mal untereinander bekriegen (siehe Karikatur). Eine offizielle Rangfolge zwischen den Divisions gibt es nicht. Aber natürlich gibt es – wie in jedem größeren Unternehmen – eine inoffizielle Hackordnung:
Zu den coolen Kids auf dem Campus zählen die X-Box-Leute, dicht gefolgt von den Skype-Mitarbeitern, die sich vor allem dadurch auszeichnen, dass die ihrer eigene E-Mail-Kennung führen dürfen (zum Beispiel John@Skype.com im Gegensatz zu den Standard-Microsoft-Adressen). An dritter Stelle stehen die Windows- und die Office-Entwickler, allein schon deshalb, weil sie an dem Produkt arbeiten, das weltweit am meisten mit Microsoft identifiziert wird.
Den untersten Platz im firmeninternen Image-Ranking belegen die Verkäuferinnen und Verkäufer in den Microsoft-Stores. Diese meist studentischen Hilfskräfte in ihren bunten T-Shirts genießen in der Firmenzentrale etwa einen ähnlichen Ruf wie bei uns in Deutschland T-Punkt-Mitarbeiter.
Der Neue
In seinen 22 Jahren bei Microsoft, hat der neue Boss, Satya Nadella zahlreiche Stationen in Redmond durchlaufen, darunter die Research und Development-Abteilung für Online-Services, zuletzt leitete er die Sparte Geschäftskunden und Cloud-Software. Nadella gilt als Intellektueller, belesener und smarter als Steve Ballmer („Wie Obama nach George W.“, so ein Mitarbeiter). Vor allem scheint die Belegschaft darüber erleichtert zu sein, dass der neue CEO aus den eigenen Reihen stammt. Ein Externer hätte wohl weniger Skrupel gehabt, ganze Bereiche dicht zu machen und Arbeitsplätze abzubauen.
Vor wenigen Tagen hat Nadella das Büro seines Vorgängers im obersten Stockwerk von Haus Nummer 34 bezogen, eines der wenigen Gebäude, das rund um die Uhr mit Security-Personal in Zivil bewacht wird. Das ist insofern ungewöhnlich, als dass man von der Security auf dem Gelände sonst kaum etwas mitbekommt. Überall hängen Kameras, klar. Weißen Security-Vans oder Wachleuten in irgendwelchen Fantasie-Uniformen, wie sie bei Google, Apple oder Facebook patrouillieren, begegnet man hier selten.
Die Vision
Einen Programmpunkt, der für gewöhnlich Investoren, Delegationen von Unternehmen oder Staaten vorbehalten ist, ist das Future Home im Obergeschoss des Executive Briefing Centers. Hier hat Microsoft seine Vision eines vollvernetzten Hauses in Stein und Pappmaché umgesetzt. Harald Becker, vor über 20 Jahren aus Deutschland eingewandert, führt uns durch künstlich anmutende Wohnräume, die stark an IKEA-Einrichtungswelten erinnern.
Die nicht ganz so virtuelle Realität
Während die Zukunftsforscher im Executive Briefing Center an der Arbeitswelt von morgen tüfteln, wird an anderer Stelle des Firmengeländes ganz konkret an der Arbeitswelt der Gegenwart gearbeitet. Microsoft umgibt eine gewisse Patina. Vor allem die Altstadt, also die ersten 6 Bürogebäude, die hier Mitte der 80er Jahre aus dem Boden gestampft wurden, wirken nach heutigen Standards eng und muffig. Wir laufen durch Etagen, die generalüberholt werden. Einzelbüros in Legehennen-Größe werden zu Co-Working-Spaces mit bunten Sesseln und weiten Tischen umgewandelt. „Ein Experiment“, erklären meine Begleiterinnen. Der Anblick ist schon fast ein Sinnbild für den Zustand des gesamten Unternehmens: Raus aus dem Muff von gestern – zurück auf die Rennstrecke in Richtung Zukunft!
Tatsächlich werde ich nach meinem Besuch den Eindruck nicht los, Microsoft gleicht eher Siemens als einer trendigen Innovationsschmiede. Bemühungen, mehr Startup-Geist in das Unternehmen zu tragen, etwa durch „Garage-Meetings“ oder Hackathons, können nicht darüber hinweg täuschen, dass Microsoft in die Jahre gekommen ist. Die Mitarbeiter genießen ihren „Velvet Cage“, ihr sicheres Einkommen und die vielen Annehmlichkeiten, die mit einer Festanstellung bei Microsoft verbunden sind.
Umzug ins Valley?
Microsoft ist berechenbar und solide. Einerseits ist das gut, andererseits könnte das dem Unternehmen aber auch zum Verhängnis werden. Beobachter aus der Tech-Branche unken, Microsoft habe nur dann wirklich eine Chance, sich neu zu positionieren, wenn es seine Zentrale ins Silicon Valley verlegt. Der Erfolg steht und fällt mit dem Kampf um die besten Köpfe. Und die befänden sich nun mal im sonnigen Kalifornien und nicht im regnerischen Redmond.
Ob der Umbau gelingt, wird sich bald zeigen. Falls alle Stricke reißen, vielleicht kann ja ein gut gemeinter Ratschlag helfen. Jener Pro-Tipp, der so alt ist, wie das Traditions-Unternehmen selbst:
„Haben Sie es schon mal mit einem Neustart versucht?“
Leseempfehlungen von Satya Nadella an seine Mitarbeiter:
Wenn MS noch was vom Betriebsystem Markt auf dem Schreibtisch abhaben möchte, ist es zwingend erforderlich sich endlich vom alten Windows NT Kern zu trennen und den Fenstern einen Unix Unterbau zu verpassen. Systeme müssen für Menschen entwickelt werden, nicht für Techniker. Aber wie sagte Steve Jobs damals so schön: They just have no taste …. Siehe http://www.youtube.com/watch?v=mOgOP_aqqtg
Das Problem von Microsoft ist wirklich nicht der OS-Kernel.
Die Bilder zu den IKEA-Einrichtungswelten lassen sich nur im Miniaturformat betrachten ;)