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Ein Stammbaum der gesamten Menschheit? 2 Unternehmen liefern sich ein Kopf an Kopf-Rennen um das Google Maps der Ahnenforschung. Ob Gentests im Labor oder Fotosafaris am Friedhof – keine Idee ist den Datenjägern zu abwegig, um ihre digitale Ahnengalerie im Netz zu komplettieren. Die letzte Schlacht zwischen den beiden Marktführern führt nach Utah, wo Mormonen den weltweit größten genealogischen Datenschatz tief in den Bergen vergraben haben.
We are family
Sie und ich, lieber Blogbesucher, liebe Blogbesucherin, wir sind mit hoher Wahrscheinlichkeit verwandt. Die Frage ist nur: über wie viele Ecken? Möchte man das herausfinden, stößt man bei Standes- und Einwohnermeldeämtern schnell an seine Grenzen. Allein eine weltweite Datenbank mit Millionenfach untereinander verknüpften Stammbäumen könnte einen solchen Nachweis erbringen.
Die Genealogie ist ein gigantischer Markt, dem lange wenig Beachtung geschenkt worden ist. Allein ancestry.com, mit 55 Millionen Stammbäumen und über 12 Milliarden Dokumenten der unangefochtene Marktführer unter den kommerziellen Ahnenforschungseinrichtungen, wird mit über 2 Milliarden Dollar bewertet.
Doch ein ambitioniertes Startup aus Israel ist drauf und dran, zum größten Familiennetzwerk der Welt aufzusteigen – und das Netz soll ihm dabei helfen.
MyHeritage – eine israelische Gründergeschichte
Auf halber Strecke zwischen Flughafen und Tel Aviv sitzen zwei Männer im obersten Stockwerk eines schmucklosen Bürogebäudes und trinken Kaffee. Beide Multimillionäre. Der eine, Saul Klein, Venture-Capitalist-Unternehmer, sitzt auf Hunderten von Millionen Dollar Vermögen. Geld, das der gebürtige Südafrikaner und ehem. Skype-Investor u.a. durch den Verkauf von Lovefilm an Amazon gemacht hat (heute Teil von Amazon Prime). Der andere, Gilad Japhet, sitzt auf etwas, das heute schon ein Vielfaches wertvoller sein dürfte, als das Geld seines Investors: Daten. Überaus persönliche Daten.
Gilad Japhet ist Gründer und CEO von MyHeritage, einem Ahnenforschungsnetzwerk, das binnen weniger Jahre zur zweitgrößten Sammlung von Familienstammbäumen und historischen Dokumenten weltweit angewachsen ist. Doch die Nummer 2 zu sein, reicht dem Israeli nicht. Sein Ziel: MyHeritage soll eines Tages den Stammbaum der gesamten Menschheit abbilden.
Wie alles begann
Japhet ist 39 und er kennt das Geschäft. Der Israeli hat selbst lange genug im Silcon Valley gelebt um zu wissen, dass jedes Startup nur so gut ist, wie die Geschichte, die es zu verkaufen hat. Seine eigene lautet wie folgt: Studium am Technion (Israels HighTech-Kaderschmiede in Haifa). Im Anschluss entwickelt er Antivirensoftware, auch in den USA. Die Firma, für die er arbeitet, wird von Symantec aufgekauft. Nach seiner Rückkehr in die Heimat gönnt er sich eine Auszeit, der Verkauf von Aktienoptionen macht das möglich. Japhet heiratet, wird Vater und beginnt damit, sich verstärkt mit seiner Familiengeschichte zu beschäftigen.
Aus Frust heraus, dass es keine brauchbaren Programme gibt, um vernetzte Familienstammbäume zu erstellen, tut Japhet das, was waschechte Unternehmer in so einer Situation nun mal tun: Er programmiert seine eigene Software. Zunächst bietet er diese gratis zum Download im Netz an. Später stellt er das System auf eine Web-basierte Oberfläche um. Es sind die Jahre nach dem Dot.com-Crash. Facebook und das gesamte Web 2.0 sind noch in weiter Ferne, da gründet Japhet im Mai 2003 zusammen mit einer Hand voll Mitarbeiter MyHeritage.com.
Wurzeln schlagen
Das Firmenlogo von MyHeritage ist nicht zufällig ein (Stamm-) Baum. Das Pflanzen eines Baumes hat in Israel eine ganz besondere Bedeutung. Im Zuge der Kultivierung brachliegender Landstriche haben die Pioniere in den 50er und 60er Jahren damit begonnen, Wälder anzulegen. Benannt wurden diese oft nach den Familien, die in den Aufbau der jungen Nation Geld investiert haben. Israel, wenn man so möchte selbst eine Art „Startup“, besitzt neben San Francisco die höchste Hightech-Gründerdichte der Welt.
Grün, grün, grün ist alles was ich habe
Für Japhet hat der Baum noch eine weitere Bedeutung. Sein Unternehmen wurde nicht in einer Garage, sondern auf dem Land geboren, in Bnei Atarot, idyllisch gelegen inmitten einer von deutschen Templern gegründeten Siedlung (ursprünglich Wilhelma) im Süden von Tel Aviv. Als das Unternehmen aus allen Nähten platzte, suchte Japhet ein Quartier ganz in der Nähe und wurde in Or Jehuda fündig. Die Dachterrasse des Bürogebäudes am Rande des Freeways ließ der Startup-Gründer mit Bäumen und Grünflächen bepflanzen – eine Reminiszenz an die Anfänge der Firma umgeben von Feldern und Obstgärten .
Expansion in Rekordzeit
MyHeritage.com wächst rasant. Einerseits durch die Daten, welche die Mitglieder selbst beisteuern. Japhet hatte seine Plattform von Anfang an international ausgerichtet und in unterschiedlichen Landessprachen angeboten. Ursprünglich war der Service kostenlos. Inzwischen basiert MyHeritage.com auf einem Freemium-Modell: Das Anlegen eines Basis-Stammbaums ist gratis. Umfangreichere Ahnengalerien und komplexe Recherchen lassen sich nur erstellen, wenn man zahlendes Mitglied ist.
Ein weitere Quelle für die ungebremsten Expansionspläne sind strategische Übernahmen. So haben die Israelis 2009 die deutsche OSN GmbH übernommen, das Unternehmen hinter der Stammbaumplattform verwandt.de. Zu den letzten Firmen inkl. Datenbanken, die sich MyHeritage einverleibt hat, gehören World Vital Records und Geni.com. Vergangene Woche verkündete das Startup stolz das Erreichen von 75 Millionen Mitgliedern und über 5 Milliarden historischen Aufzeichnungen.
Der heilige Gral der Ahnenforscher
Seit 2011 befindet sich das offizielle Hauptquartier von MyHeritage.com in den USA. Nicht, wie man vermuten sollte, in Kalifornien, sondern in Utah, dem Mormonen-Staat. Die „Heiligen der letzten Tage“ – besser bekannt als Mormonen sitzen auf so etwas wie dem heiligen Gral der Ahnenforscher: Ein gewaltiges Weltarchiv an Stammbäumen und Abstammungsurkunden, die zurückreichen bis ins Mittelalter und sogar weit darüber hinaus.
Mormonen glauben, dass Familien nach dem Tod wieder vereint werden. Aus diesem Grund sind sie dazu angehalten, Familienmitglieder und entfernte Verwandte überall in der Welt zu missionieren – und das sogar posthum. Eifrig wie das Zwergvolk aus „Herr der Ringe“ schürfen sie seit über Hundert Jahren personenbezogene Daten in Form von historischen Dokumenten und lagern diese bombensicher in einer Granitkammer im Inneren des Wasatch-Gebirges in Utah. Passagierlisten der Pilgerschiffe, Grundbucheinträge, Militäraufzeichnungen, Geburts- und Todesurkunden, Wahlregister und Namenslisten aus unzähligen Volkszählungen. Ein Datenschatz, an dem nicht nur Ahnenforscher sondern immer mehr auch kommerzielle Unternehmen interessiert sind.
Provo, Utah: Die Welthauptstadt der Ahnenforschung
So kommt es, dass Provo in Utah heute als die heimliche Welthauptstadt der Genealogie gilt. Keiner, der in der Weltliga mitmischen will, kann es sich leisten, nicht in Utah ansässig zu sein. Ahnenforscher wissen das, genau so wie die NSA. Schon lange beschränken sich professionelle Datensammler nicht mehr darauf, aus sich selbst heraus zu wachsen. Um ihre Suchergebnisse zu verbessern und die eigene Datenbank zu komplettieren, hat ein Wettlauf um Archive, Fotos und Tagebücher rund um den Globus begonnen. Kein Tag, an dem nicht eine neue Kooperation oder die Übernahme eines lokalen Anbieters verkündet wird.
Die Milliarden-Grab-App
Um an immer neue Daten zu gelangen, ist kein Weg zu weit, keine Idee zu abwegig. Sowohl ancestry.com als auch MyHeritage bieten seit einigen Jahren DNA-Auswertungen an, um entfernte Cousins im Labor aufzuspüren. Daneben setzen die Israelis vermehrt auf Crowdsourcing. Zusammen mit der Billiongraves-Bewegung hat MyHeritage eine App entwickelt, mit der Hobby-Ahnenforscher in der ganzen Welt Friedhöfe abfotografieren können. Die Fotos der Grabsteine werden durch eine Software automatisch ausgelesen und in die Datenbank von MyHeritage eingespeist und durchsuchbar gemacht.
Übernahmekandidat für Facebook und Google?
Wenn man Japhet fragt, wozu er den ganzen Aufwand betreibt, spielt er routiniert den folgenden Satz ab: „Wir wollen Familiengeschichte einfacher und für alle Menschen zugänglich machen“ (siehe Interview im Bonus-abereich unten). Dabei läge eine Übernahme durch Giganten wie Facebook oder Google mehr als nahe. Auf die Frage, für wen sich die Braut hübsch macht, weicht Japhet aus. „Es ist möglich, dass wir uns rausputzen, um ein unabhängiges Unternehmen zu sein.“
Das letzte Mal, dass ich einen solchen Satz gehört habe, war Ende Januar auf der DLD-Konferenz in München. Damals hatte der WhatsApp-Gründer Jan Koum auf der Bühne erklärt, sein Messengerdienst werde weiter eigenständig bleiben. Keine 3 Wochen verkaufte er das Unternehmen für 19 Milliarden Dollar an Facebook.
Kostenpflichtiges Bonusmaterial:
Hier könnt Ihr das Interview mit Gilad Japhet als Video (Dauer: 6 Minuten) abrufen inkl. Transkript in Original-Englisch oder in deutscher Übersetzung.
Sample
Was ist mit Beziehungen, die besser geheim bleiben sollten?
Nun, alles was ich dazu sagen kann: Wenn Du die Antworten nicht erträgst, stell keine Fragen.
Aber was, wenn Deine Feinde über Dich recherchieren?
Da kann nichts passieren, denn Daten über lebende Personen werden nicht angezeigt – nicht durch unser System.
Sie sind auch in Deutschland vertreten. Haben Deutsche aufgrund ihrer Geschichte keine Angst, zuviel über ihre Vorfahren zu erfahren?
(…)
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Die beiden Marktführer MyHeritage und Ancestry.com digitalisieren in Kooperation mit etlichen deutschen Archiven familiengeschichtliche Unterlagen. Positiv ist, dass dadurch überhaupt ein Online Zugriff realisiert wird und die Papier-Archvialien geschont werden. Fragwürdig werden solche Kooperationen aus meiner Sicht, wenn sich dadurch Firmen dauerhafte, exclusive Verwertungsrechte sichern.
Besser finde ich, wenn durch die Förderung der DFG die Digitalisierung ermöglicht wird und die Tiefenerschließung der Archivalien in Crowdsourcing-Projekten mit Vereinen durchgeführt wird. Beispielhaft sind die Projekte des Stadtarchivs Köln und des Landesarchivs Baden-Württemberg mit dem Verein für Computergenealogie:
http://historischesarchivkoeln.de/lav/index.php
http://www.landesarchiv-bw.de/web/54928
http://wiki-de.genealogy.net/Köln/Standesamt/Namensregister
http://wiki-de.genealogy.net/w/index.php?title=Labw_kgl
Vielen Dank für den Hinweis. War mir neu, das Projekt. Gibt es das auch für andere Städte/Regionen?
Es gibt zahlreiche Projekte, etwa GenTeam (Österreich), Digitalisierung durch Staat (Frankreich, Polen, Tschechien), Freiwillige (Polen), und auch Deutschland (etwa AKVZ oder die zahlreichen CompGen-Projekte wie die Erfassung der Verlustlisten des 1. Weltkrieges oder als weiteres Beispiel das Denkmalprojekt).
Ja, solche Stammbäume sind natürlich erst mal ein riesiger Haufen an Daten. Und sicherlich interessiert es einige Leute wer ihre Vorfahren waren. Aber ob diese Leute für Facebook oder Google relevant wären um sie zu bedienen? Oder was kann man sonst noch mit den Daten anstellen außer Leuten die Verwandten aufzuzeigen? Vielleicht pietätlos, aber haben tote Verwandte noch ein Potential um damit sonst noch wie Kohle zu scheffeln?