Kein Trick war dem Amazon-Konzern zu schade, um die Gewerkschaften aus seinen Lagerhallen zu halten. Nach zwei Jahrzehnten ist es jetzt einer Amazon-Belegschaft in New York zum ersten Mal gelungen, eine Arbeitnehmervertretung zu organisieren. Ein Dammbruch?
„We enjoy what we do“ – Nirgendwo ist die Welt schöner als bei Amazon! Schreibe nicht ich. Schreiben die Amazon-Lagerarbeiter, auf Twitter und auf Facebook. Die Absender sind echt. Das Problem: Ihre Kommentare sind gekauft. Die Gegenleistung: Sandwiches oder auch Freistunden. Ausgedacht hat man sich das sog. „Ambassador“-Programm in der Konzernzentrale in Seattle, um auf negative Berichte in den sozialen Netzwerken zu reagieren.
Wer hätte das auch ahnen können, natürlich ging der Schuss nach hinten los. Mit viel Ausdauer und noch mehr Sarkasmus stürzte sich die Netz-Gemeinde auf die Amazon-Jubelperser: „Zwinkere zweimal, wenn sie dich gefangen halten“ so eine Antwort auf Twitter, oder auch: „Ich habe schon glaubwürdigere Geiselvideos gesehen“. Zwischenzeitlich wurde das Ambassador-Programm beendet.
„In Deutschland haben vergleichbare Aktivitäten nur in sehr geringem Umfang stattgefunden und wurden ebenfalls eingestellt“, schreibt ein Amazon-Sprecher auf Nachfrage. Wieviele Mitarbeiter für diese Aktion wie lange im Einsatz waren, ist schwer zu rekonstruieren. Amazon hat die Konten gelöscht, und mit ihnen auch viele der Reaktionen.
Für eine Weile war Ruhe. Doch dann tauchten in den USA neue „Ambassador FC“-Tweets auf (Bevor Sie bei Amazon nach Trikots suchen – FC ist kein Sportclub sondern steht für „fulfillment center“). Das Netz fing erneut Feuer. Amazon und die Troll-Armee lieferten sich wieder hitzige Wortgefechte. Keiner konnte mehr sagen, welche Ambassador-Konten echt, welche Parodie sind – das Chaos war perfekt.
Hintergrund für die neue Kontroverse sind zwei historische Abstimmungen in zwei US-Bundesstaaten. Während das Wahlergebnis in Alabama noch nicht amtlich ist, ist das Votum in New York eindeutig. Dort hat sich die Mehrheit der rund 5000 Amazon-Lagerarbeiter dafür ausgesprochen, sich gewerkschaftlich vertreten zu lassen. Ein historischer Einschnitt in der über Geschichte des Online-Händlers.
Für Amazon steht viel auf dem Spiel. Anfang des Jahres war es der Belegschaft einer Starbucks-Filiale in Buffalo im US-Bundesstaat New York gelungen, die erste gewerkschaftliche Vertretung gegen die Kaffeehaus-Kette durchzusetzen. Ermuntert durch diesen Erfolg haben 60 weitere Filialen angekündigt, einen Betriebsrat zu gründen. Ein Dammbruch.
Wie ernst die Lage ist, lässt sich auch daran erkennen, mit welchen Methoden Amazon versucht, die Mitarbeiter zu beeinflussen: Plakate in den WCs und an den Desinfektionsmittel-Stationen, Textnachrichten und E-Mails an die Mitarbeiter, um eine „informierte Entscheidung“ treffen zu können. Die Kommunikation des Konzerns war derart aggressiv, dass ein Gericht die erste Abstimmung vor einem Jahr für ungültig erklärte.
Dass der Arbeitsdruck bei Amazon enorm ist, hat sich herumgesprochen. Der Konzern liefert laufend neues Futter: Im Dezember drohte der Vorgesetzte einer Amazon-Fahrerin im US-Bundesstaat Illinois mit Entlassung, wenn sie – trotz Tornado-Warnung – nicht weiter Pakete ausliefert. Bei der Naturkatastrophe im Dezember kamen sechs Amazon-Mitarbeiter ums Leben.
Statt das Tempo herunterzufahren und den Leistungsdruck zu senken, hat Amazon „AmaZen“ eingeführt. Telefonzellen-große Video-Kabinen, in die sich gestresste Lager-Arbeiter für ein paar Minuten zurückziehen können. Landschaftsbilder und Naturgeräusche auf einem Monitor sollen beruhigend wirken, wenn Lärm und Hektik zu viel werden. „AmaZen konzentriert sich auf Achtsamkeitsübungen und ist derzeit über Selbstbedienungskioske erhältlich“, heisst es dazu aus der Amazon-Pressestelle. Mitarbeiter lästern, ein Dixie-Klo wäre ihnen lieber gewesen.
Und wo wo wir gerade beim Thema sind – wer erinnert sich nicht gerne an die Urin-Flasche? Immer wieder hatte Amazon dementiert, dass Paketzusteller ihre Notdurft oft auch unterwegs in Flaschen verrichten müssten. „Wer glaubt denn sowas“ twitterte der offizielle Amazon-Firmen-Account in den USA noch im März 2021. Nur ein Monat später dann kleinlaut das Eingeständnis, dass die Berichte stimmten, nachdem entsprechende Mitarbeiter-Mails aus der Konzernzentrale publik wurden.
Ob die Urin-Flasche nun halb voll oder halb leer ist, negative Vorfälle wie diese versucht das Amazon-PR-Team in München gar nicht erst zu beschönigen. Stattdessen schwört man darauf, dass Amazon der „beste Arbeitgeber“ der Welt werden möchte: „Wir sind sicherlich noch nicht perfekt und haben als Arbeitgeber Luft nach oben, aber wir arbeiten jeden Tag hartnäckig mit unseren Mitarbeitenden daran, diesem Ziel näher zu kommen.“
Lieber Herr Gutjahr,
für mich klingt das wie Kapitalismus im Endstadium. Und da denke ich an Ihren vorhergehenden Artikel über das „Metaverse“. In der realen Welt sind die (Überlebens)Bedingungen so bes*******, dass die Menschen in ihrer verbliebenen und spärlichen Restfreizeit in virtuelle Welten flüchten, um ihren Elend im „Reallife“ ein paar Minuten lang vergessen können. Ich glaube nicht, dass sich die Menschen das auf lange Zeit gefallen lassen. Irgendwann erinnern sie sich wieder, was Work-Life-Balance tatsächlich bedeutet.
Ihnen alles Gute und eine schöne Woche!
Fjord
Metaverse… oder Mars (Musk, Bezos, Branson…). :-) Danke für den Beitrag.