Er war Kanzlerkandidat der SPD und bereut das heute. In seinem Buch Vertagte Zukunft* spricht Peer Steinbrück über den vergeigten Wahlkampf, seine Sorge um Deutschland und sinistre Internet-Kapitalisten.
Offenlegung:
Ich habe von Hoffmann und Campe 500 Euro als Aufwandsentschädigung dafür bekommen, dass ich einige Termine canceln musste, um kurzfristig nach Berlin zu reisen. Im Mittelpunkt unseres Gesprächs die Themen: Deutschland, die Medien und die digitale Revolution.
Gutjahr: Jetzt sind wir hier und reden über Ihr Buch?
Steinbrück: Sie dürfen alle Fragen stellen und ich überlege mir meine Antworten. Dann versuche ich jetzt nicht in der Nase zu bohren.
Gutjahr: In der Nase bohren ist ein gutes Stichwort, Herr Steinbrück…
Steinbrück: Steilpass!
Gutjahr: Ja, ja Steilpass. Vor allem mit dem Finger (zeigt auf das Cover des SZ-Magazins).
Steinbrück: Ich ahnte, das Sie eine solche kleine Überraschung haben aber da geht der Finger ja in eine andere Richtung.
Gutjahr: Ist aber nicht gephotoshopped oder irgendwie gefaked, das hat die Süddeutsche Zeitung nicht einfach manipuliert, sondern das ist der echte Steinbrück-Finger.
Steinbrück: Ich muss mich dazu bekennen, in einer Art emotionalem Ausbruch, ja.
Gutjahr: Sie sind ja ein echter Trendsetter gewesen, jetzt mit Tsipras (Varoufakis), also….
Steinbrück: Nee, vorher waren doch auch schon Fußballspieler damit voraus.
Gutjahr: Ja? Okay. Bereuen Sie das, dass Sie sich da…?
Steinbrück: Ja, ja, zu einem gewissen Grade. Ich glaube einige haben gesagt, okay, der ist da ein bisschen explodiert und hat seiner Stimmung ein bisschen durch Körpersprache Luft gemacht. Andere sagten, das kann man nicht machen. Einer, der sich um das Kanzleramt bewirbt, der muss die Selbstdisziplin haben, auch in seiner Körpersprache!
Gutjahr: Ihr Buch ist eine Abrechnung auch mit sich selbst, was Sie falsch gemacht haben. Aber auch mit den Medien. Sind Sie so ein bisschen froh, dass jetzt nicht nur die Politiker die Buhmänner sind, sondern dass auch – Stichwort Lügenpresse – die Medien jetzt vom Volk eins auf die Mütze kriegen?
Steinbrück: Nein, keineswegs. Wir beide wissen, Lügenpresse ist Nazijargon. Das ist die Sprache von Goebbels gewesen seinerzeit, Ende der zwanziger, in den dreißiger Jahren.
Gutjahr: Der Begriff ist schon ein bisschen älter…
Steinbrück: …aber historisch ist das ganz anders unterlegt, insofern, würde ich mir das überhaupt nicht zu eigen machen. Ich will vorausschicken, das Buch ist nicht nur eine Abrechnung. Eigentlich sind die ersten 70 Seiten nur der Blick auf einen Wahlkampf. Viel wichtiger ist: Was passiert in der Zukunft. Was die Medien betrifft, ja. Ich lecke da nicht irgendwelche Wunden, ich will da nicht larmoyant sein – aber ich glaube, dass die Entwicklung der Medien einerseits dazu führt, dass wir über das Verhältnis von Politik und Medien neu reden müssen. Zweitens dass es nicht nur Politikverdrossenheit gibt gegenüber Politikern, gegenüber Parteien, es gibt auch zunehmend eine Medienverdrossenheit und damit muss sich die Medienbranche selbstkritisch auseinandersetzen.
Gutjahr: Immerhin regen sich die Leute noch über die Medien auf. Bei der Politik hat man das Gefühl, dass sich ein Großteil der Menschen schon verabschiedet hat.
Steinbrück: Das wäre noch schlimmer, nach dem Motto: „Uns ist das alles egal, die kümmern sich sowieso nicht um meine Sorgen oder Lebensverhältnisse!“ Nur diejenigen, die dann das tun, müssen sich die Frage stellen: Was heißt das auf Dauer für unsere freiheitlichen demokratische Gesellschaft? Wenn man sagt, das ist mir alles egal, wenn man sich nicht mehr für das öffentliche Wohl interessiert und dass, was insgesamt mit dieser Gesellschaft passiert. Denn das alles kommt ja nicht von selbst, weder Demokratie, noch Wohlstand, noch funktionierende Integration, noch ein einigermaßen sicheres Europa, noch der Erhalt unserer Wohlstandsbasis. Das fliegt uns ja nicht zu wie Manna vom Himmel.
Gutjahr: Und wer hat es jetzt verbockt, dass sich die Leute nicht mehr dafür interessieren? Die Politiker, die Medien?
Steinbrück: Ich glaube, beide Seiten. Ich rede in dem Buch davon, dass die Politik die Bürgerinnen und Bürger unterfordert und versucht, sie auch ein bisschen einzuschläfern. Jetzt nicht physisch, sondern einfach nach dem Motto: „Das ist alles alternativlos und…
Gutjahr: …Mutti wird’s schon richten.
Steinbrück: „Mutti wird es schon richten, sie ist die Hüterin über alle deutsche Porzellankisten, im Übrigen wünsche ich Ihren jetzt einen guten Abend!“ Das heißt, die Politik hat dazu beigetragen, zu entpolitisieren aber umgekehrt – und da wird es auch ein bisschen raubeiniger für die Leserinnen und Leser – sage ich: Einige wollen sich auch in einer permanenten Gegenwart bequem einrichten.
Gutjahr: Wir wollten heute ja auch – so haben wir es zumindest angekündigt – über das Neuland reden, die digitale Zukunft von Deutschland. Sie widmen diesem Thema ein ganzes Kapitel. Wenn man das Buch so liest, dann hat man hinterher so viel Lust auf das Internet, wie auf eine Wurzelbehandlung. War das beabsichtigt?
Steinbrück: Nein, ich schreibe ja auch, dass dieses Internet und das, was wir mit Digitalplattformen erleben oder Techniken, Welten eröffnet, die vorher völlig unbekannt sind. Aber ich vollziehe nach, was auch sehr internetaffine Leute ja inzwischen erleben; Sascha Lobo und andere, die von einer Begeisterung dafür, langsam auch merken, dass da durchaus Ambivalenzen drin sind. Mit Blick auf die Tatsache, wie Internetgiganten aus unseren Informationen Geschäftsmodelle machen, welche Monopolstellung sie haben, welche Einfluss- oder Manipulationsmöglichkeiten es gibt. Das wird zwar nicht mit Geld bezahlt, aber die Informationen. Einige von uns stellen diese Informationen sehr bereitwillig ins Internet und wundern sich dann, wenn sie es nicht wieder raus kriegen. Ich versuche schon deutlich zu machen, es ist auf der einen Seite ein Segen, aber es hat auch seine Risiken.
Gutjahr: Da sind wir schon beim Thema Datenschutz und beim NSA-Skandal. Hatte ich eigentlich für später geplant. Aber gut: Hätten Sie, wenn Sie das Sagen gehabt hätten, Edward Snowden Asyl gewährt?
Hätten Sie Edward Snowden Asyl gewährt?
Steinbrück: Nur wenn er sich sicher sein kann, dass aufgrund der rechtlichen Beziehungen zwischen den USA und Deutschland, keine Auslieferung erfolgt. Und ob das wirklich in seinem Interesse ist, nach Deutschland zu kommen. Und das steht offenbar in Zweifel.
Gutjahr: Diesen Satz hört man häufiger. Aber ist das nicht ein bisschen eigenartig? Wir erleben den größten Lauschangriff, das größte Überwachungsprogramm in der Geschichte der Menschheit. Unbescholtene Bürger, werden da millionenfach einfach so in General-Verdacht gestellt und die großen Parteien – auch Sie – nehmen das so einfach hin.
Steinbrück: Nein, da widerspreche ich Ihnen energisch.
Gutjahr: Ja?
Steinbrück: Ja! Weil ich mich erinnern kann, wie ich im Juni, Juli, August 2013 genau dieses zum Thema gemacht habe, aber es interessierte kaum jemanden. Ich habe damals von einer millionenfachen Grundrechtsverletzung gesprochen und deutlich gemacht, dass dies ein Angriff eines Nachrichtendienstes ist, auf ein befreundetes Land. Wir sind immerhin ein Bündnispartner in der NATO. Oder auch sonst in den transatlantischen Beziehungen, ich kann mich genau daran erinnern, dass das eine erhebliche Rolle spielte. Wissen Sie, wann dieser NSA-Skandal erst hoch pochte?
Gutjahr: Mit dem Handy?
Steinbrück: Ja, mit dem Handy von Frau Merkel. Und vorher interessierte das nur eine kleine Gemeinde. Vielleicht gehören viele dazu, die uns jetzt zuhören oder zuschauen. Aber bevor das Handy, das Mobilfunktelefon von Frau Merkel nicht im Spiel war, lief das ab, wie Badewannenwasser.
Gutjahr: Aber Sie leiten ja sogar die deutsch-amerikanische Parlamentariergruppe, sind auch häufig in den USA. Wäre es da nicht angebracht, einfach auch mal deutlicher zu werden und auch zu sagen: Leute so geht das nicht! Eventuell auch zu sagen: Wir kündigen das Safe-Harbor-Abkommen?
Steinbrück: Ja, aber woher wissen Sie, dass ich das nicht getan habe?
Gutjahr: Ach?
Steinbrück: Ja, also bei dem ersten Treffen, ja.
Gutjahr: Mittelfinger?
Steinbrück: Natürlich nicht mit dem Finger. Ich meine, das macht ja keinen Sinn, in eine Umgangsform zu fallen, wo die sich gleich zurückziehen und sagen: Der hat ja einen Hau, der Junge. Sondern bei dem ersten Besuch hat es natürlich auch eine Rolle gespielt, inwieweit diese Abhöraktivitäten die Qualität der Deutsch-Amerikanischen Beziehungen betreffen. Ich kann mich sogar erinnern, dass ich öffentlich gesagt habe, dass die Verhandlungen über TTIP, dieses transatlantische Freihandelsabkommen so lange ausgesetzt werden sollen, wie nicht klar ist, dass die Amerikaner, Einrichtungen der Europäischen Union in Washington und New York nicht weiter abhören und abfischen.
Gutjahr: Und jetzt schreiben Sie in Ihrem Buch, Sie wollen ausgerechnet die Datenschutzfrage mit den Amerikanern sogar in TTIP hereinholen.
Steinbrück: Ja.
Dass TTIP im Geheimen begonnen worden ist, war ein schwerer Fehler
Gutjahr: Hinter verschlossenen Türen. So intransparent, wie auch nur irgendwie geht?
Steinbrück: Ach, tütelüt. Entschuldigen Sie. Ich weiß, dass TTIP fast im Geheimen begonnen worden ist. Das war ein schwerer Fehler, weil das Türen und Tore öffnete für alle Fehlannahmen. Aber die setzen sich natürlich zunächst erst mal zusammen um zu ermitteln, was sind die wechselseitigen Positionen, welche Veränderungen gibt es? Dann muss man es öffentlich machen, völlig richtig. Das ist ja das Bemühen das es jetzt gibt, um dieses TTIP endlich aus diesen merkwürdigen Geruch herauszuholen. Aber wenn Sie mit den Amerikanern reden oder etwas bewirken wollen, dann werden Sie das nicht vor laufenden Kameras machen können. In dem Buch schlage ich vor, dass man eine Art Kodex finden sollte, was den Umgang mit nachrichtendienstlichen Aktivitäten betrifft.
Gutjahr: Ein Kodex?
Steinbrück: Ja, eine Verhaltensregel. Denn aus meinen Gesprächen mit den Amerikanern ist völlig klar, die werden kein No-Spy-Abkommen mit Deutschland abschließen. Das machen die nicht.
Gutjahr: Was machen wir denn mit unseren inländischen Geheimdiensten? Die sind ja auch völlig außer Kontrolle geraten.
Steinbrück: Na, also wir wollen mal keine Dramatisierung oder Verschwörungs…
Gutjahr: Aber Sie werden doch nicht sagen, dass diese G10 Veranstaltung tatsächlich eine wirksame Überprüfung des Bundesnachrichtendienstes ist.
Steinbrück: Na ja, Herr Gutjahr, ich meine, in die Vorurteils-Rille zu fallen völlig außer Kontrolle, ist natürlich nicht wahr. Selbstverständlich unterliegen die einer Aufsicht und es gibt bestimmte Gesetze, nachdem sie sich zu verhalten haben.
Gutjahr: Wie viele Leute kontrollieren die denn im Gremium?
Steinbrück: Ich weiß nicht, wie viel die in dem G10-Ausschuss…
Gutjahr: Fünf?
Steinbrück: Nein, nein, nein. Da sind ja aus allen Parteien welche, auch aus der Opposition. Von den Grünen genauso wie von der Linkspartei, also etwas vorsichtig mit dem Bemühen von Vorurteilen. So und im Übrigen…
Gutjahr: Also alles in Ordnung?
Steinbrück: Nein, sage ich ja nicht. Ich sage nur, dass Ihr Satz „außer Kontrolle“ eine klassische journalistische Übertreibung ist, um so ein bisschen alles aufzupeppen.
Gutjahr: Na gut, aber ein Kodex klingt mir auch so, wie ein bisschen Flausch.
Steinbrück: Ja, Sie kriegen mit den Amerikanern kein formales…
Gutjahr: Ich rede jetzt auch über die deutschen Geheimdienste.
Steinbrück: Ja, da hat mir gerade gestern Herr de Maizière im Bundeskabinett und in der Fragestunde des Bundestages vorgestellt, welche Konsequenzen aus dem NSU-Skandal, also aus den Anschlägen der Neonazis gezogen werden. Auch mit Blick auf den Verfassungsschutz. Dann muss man sich das schon angucken, was da gesagt worden ist.
Gutjahr: Sind Sie für die Vorratsdatenspeicherung?
Steinbrück: Unter bestimmten Auflagen glaube ich, dass das in der Tat ein Mittel sein könnte, um insbesondere Schwerstkriminalität, organisierte Kriminalität, terroristische Anschläge auf die Sicherheit dieses Landes und seiner Bürger jedenfalls einzudämmen oder vielleicht rechtzeitig zu verhindern. Aber noch einmal, es liegt sehr genau bei den Auflagen, auch der Dauer, in der diese Daten gespeichert werden, unter welchen Voraussetzungen. Ich glaube, man muss sich dem Thema stellen.
Gutjahr: Das ist interessant, wenn Sie sofort mit diesen Antiterror-Maßnahmen kommen. Wenn man sich die Statistik anschaut, wofür diese so genannten „Antiterrorgesetze“ im Nachhinein wirklich genutzt werden, dann werden da oft Kleinkriminelle verfolgt. Das geht runter bis zu Ordnungswidrigkeiten. In den seltensten Fällen werden diese Gesetze später für das genutzt, wofür sie ursprünglich mal verabschiedet worden sind. Haben Sie sich das mal angeschaut?
Ich will nicht, dass die Linken die Sicherheit des Landes bedrohen, indem sie die Abschaffung der Geheimdienste fordern
Steinbrück: Ja, das kommt auf die Kontrolle an. Das betrifft die Aktivitäten des Verfassungsschutzes oder des BKA genauso, wie jetzt die Fragestellung, ob das ein geeignetes Mittel ist, um die Sicherheit für die Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten. Ich rede hier nicht von einer heilen Welt. Die Frage ist nur, gestern tauchte eine Fragestellung eines Linken Politikers auf, alle Nachrichtendienste abzuschaffen. Das heißt ja letztlich, dieses Land blind zu machen gegenüber dem Anliegen oder sogar mehr als das, den Absichten von Leuten, wo ich sage: Ich will das aber nicht, dass die sich durchsetzen oder dass die die Sicherheit des Landes bedrohen und seine Bürger.
Gutjahr: Kommen wir zu einem anderen Thema, dem Breitband-Ausbau. Davon waren Sie ja ein glühender Verfechter. Jetzt haben wir die Rente mit 63.
Steinbrück: Ja, es wird zu wenig investiert, in die moderne Infrastruktur.
Gutjahr: Ärgern Sie sich da? Ich meine, mit der Kohle hätte man tatsächlich doch etwas für die Zukunft machen können.
Steinbrück: Ja, ich meine, alle regen sich darüber auf, dass ich sage: Okay, dann setzt mal für zwei Jahre die Mütterrente und die Rente mit 63 aus, das sind 17 Milliarden Euro. Und diese 17 Milliarden Euro investiert in Bildung und unter anderem in ein schnelles Netz, was enorm wichtig ist, auch im Vergleich zu dem Zustand anderer Länder. Wir haben hier eine Durchschnittsgeschwindigkeit in Deutschland, die ist grottenschlecht.
Gutjahr: Warum haben Sie das so VOR der Wahl nicht kommuniziert?
Steinbrück: Herr Gutjahr! HABE ich vor der Wahl thematisiert.
Gutjahr: Na ja, Sie wollten einen Fonds einrichten, aber…
Steinbrück: …sehen Sie, sehen Sie!
Gutjahr: …aber die Rente mit…
Steinbrück: Plötzlich wissen Sie – Sie erinnern sich.
Gutjahr: Nein, nein. Das sind zwei verschiedene Geschichten. Die Rente mit 63 haben Sie trotzdem propagiert.
Steinbrück: Ja, weil ich der Auffassung bin, dass es Einige gibt, deren Knochen so kaputt sind und die auch ausgebrannt sind, dass man ihnen die Möglichkeit geben soll. Aber nun haben wir ein Paket aus vier Bestandteilen und das Teuerste ist die Mütterrente. Und die fallen finanziell ziemlich ins Gewicht und zwar zu Lasten ihrer Generation und kommender Generationen. Und das was ich beklage in dem Buch, ist, dass wir vieles zu konsumtiv ausgeben und zu wenig investiert. Aber das schnelle Internet war Bestandteil meines Wahlkampfes.
Gutjahr: Das weiß ich. Offenbar hatte die Partei andere Ziele…
Gutjahr: Ihr Buch liest sich auch so ein bisschen fast schon wie ein Regierungsprogramm, das nie Wahrheit geworden ist. Ist das vielleicht auch schon ein Ausblick so auf die Zukunft?
Steinbrück: Sie meinen, ob ich…
Gutjahr: Wollen Sie noch mal gegen Merkel verlieren?
Steinbrück: Ja, ja. 2025, 2029 und…
Gutjahr: Und bis dahin?
Steinbrück: Nein, das ist es nicht – sondern was mich umtreibt, ist: Kümmern wir uns um die großen Fragen, die unsere Zukunft bestimmen werden? Bildung, Integration, Europa, Wohlstandsentwicklungen die wir für selbstverständlich nehmen, auch wenn es allen nicht gleich gut geht. Oder auch mit Blick auf die Frage, wie ist das Zusammenwirken in einer älter werdenden Gesellschaft, zwischen einer jungen Generation und einer älteren Generation?
Gutjahr: Ich habe mir gestern mal die Amazon Bewertungen Ihres Buches durchgelesen. Eine möchte ich vorlesen, die ist durchaus repräsentativ, es gab noch schlechtere. Von M. Schmid, der schreibt:
„Neben Plattitüden ‚Wir stehen erst am Anfang der digitalen Revolution’ hat Herr Steinbrück ja in der Vergangenheit bereits gezeigt, dass er alles immer besser weiß und wie glaubwürdig er ist. Erst gegen den Mindestlohn sein und Leute die dafür sind, als ökonomisch unwissend zu erklären und dann im Wahlkampf plötzlich hoher Mindestlohn. Selbige Substanz hat dieses Buch.“
Was sagen Sie dem Herrn Schmid?
Steinbrück: Gar nichts, das ist sein Urteil. Warum sollte ich ihn kritisieren für sein Urteil? Es gibt andere Urteile, wo ich erstens glaube, dass ich nicht für Plattitüden bekannt bin, sondern eher für Sätze die sich unterscheiden von Null-Sätzen der Politik. Ich glaube, das darf ich in Anspruch nehmen. Zweitens glaube ich, dass in dem Buch durchaus einiges drin steht, was vielleicht Interesse wecken könnte.
Gutjahr: Ihre Partei hatte 150. Geburtstag. Das war damals ja mehr oder weniger so eine Antwort auf die Industrialisierung, auf diesen Bruch, der da durch die Gesellschaft weltweit ging. Welche Antwort hat die SPD denn jetzt auf diesen neuen Bruch, auf diese digitale Revolution, die wir gerade durchmachen?
Steinbrück: Jedenfalls nicht nur die alte Antwort, die in dem Ausbau des sozialen Wohlfahrtsstaates liegt. Das reicht nicht mehr.
Gutjahr: Was ist Ihre Antwort auf die Digitalisierung?
Steinbrück: Freiheit.
Gutjahr: Die FDP? Werden Sie überlaufen?
Steinbrück: Wieso soll der anderen Partei der Freiheitsbegriff überlassen werden? Ich rate meiner Partei, den Freiheitsbegriff aufzunehmen, auch vor dem Hintergrund der Digitalisierung. Was ist mit den Manipulationsmöglichkeiten durch Internetgiganten? Können sie die Algorithmen so verändern, dass plötzlich die öffentliche Debatte von denen mitgesteuert wird? Weil sie bestimmte Ereignisse, bestimmte Personen, bestimmte Inhalte gar nicht mehr vorkommen lassen? Oder in den Suchmaschinen auf Platz 2725 erst auftaucht? Können sie die öffentliche Debatte, unter anderem auch das Freiheitsgefühl, das Selbstbestimmungsrecht der einzelnen Individuen beeinflussen? Wird die Frage gestellt an diese großen amerikanischen Internetgiganten?
Gutjahr: Und da fällt der SPD nichts anderes ein, als kurz vor der Bundestagswahl noch schnell so ein Lobbyistengesetz, wie das Presseschutz- nein, Urheber-Rechtsschutzgesetz, wie hieß dieses Monstrum nochmal? Sie wissen schon, wegen dieser Google Snippets…?
Steinbrück: Nein, weiß ich nicht aus dem Stand. Aber wir können gerne über Urheberschutz in unserer Gesellschaft reden.
Gutjahr: Dieter Gorny ist seit gestern auch Ihr Digitalbeauftragter in der SPD.
Steinbrück: Ja und?
Gutjahr: Das ist auch so ein Musiklobbyist.
Steinbrück: Ja, ich meine, dann sind wir alle irgendwo Lobbyisten. Wenn wir eine Position einnehmen…
Gutjahr: Aber Sie haben doch gerade Freiheit gesagt?
Steinbrück: Ja, darum geht es ja.
Wenn jemand Musik komponiert oder ein Buch schreibt – Sie glauben, Sie kriegen das umsonst?
Gutjahr: Naja, wenn man versucht, einerseits die Freiheit auszuloben und auf der anderen Seite mehr oder weniger alte Geschäftsmodelle fest zu tackern, wie geht das zusammen?
Steinbrück: Entschuldigen Sie bitte, jemand der Musik komponiert oder produziert und der ein Buch schreibt, der hat einen Anspruch darauf, dass dieses geistige Eigentum von ihm auch vergütet wird. Wo kommen wir denn da hin? Das hat doch mit Freiheit nichts zu tun. Das hat doch etwas mit der Freiheit desjenigen zu tun, der Ihnen ein geistiges Produkt vorsetzt, was Sie konsumieren wollen. Und Sie glauben, Sie kriegen das umsonst?
Gutjahr: Ja, aber deswegen gleich für kurze Zitate Geld…
Steinbrück: …darüber können wir ja reden. Aber erst mal wollen wir darüber reden, dass intellektuelles Eigentum das jemand produziert, für das er sich sehr stark einsetzt – ob er nun mit den Händen arbeitet oder mit dem Kopf – nicht einfach von dem kostenlos zur Verfügung zu stellen ist. Was heißt das für diese Gesellschaft, wenn alle den Eindruck haben: Das was ich bringe, davon kann ich gar nicht mehr meinen Lebensunterhalt bestreiten. Wovon soll er denn leben?
Gutjahr: Also vom Leistungsschutzrecht rücken Sie nicht ab?
Steinbrück: Nein. Ich glaube, dass Leistungsschutz von einer Bedeutung ist, die Debatte – das wissen Sie besser als ich – die wabert seit drei, vier Jahren hin und her. Weil unterschiedliche Interessen, der freie Zugang zu Informationen natürlich auch ein Argument ist. Aber umgekehrt einfach all diejenigen so ein bisschen in die Ecke zu stellen, auch als Lobbyisten, wie Sie das gemacht haben, die natürlich einen Anspruch darauf haben, dass ihr geistiges Eigentum vergütet wird, finde ich auch falsch.
Gutjahr: Ja, wenn die Autoren oder die Künstler am Ende davon profitieren würden, wäre ich mit Ihnen hier einer Meinung, aber müssen wir ja nicht.
Steinbrück: Ja, aber dann haben wir als eigentliches Problem die Vermarktungskette, in dem Zusammenhang.
Gutjahr: Genau. Schaffen wir jetzt nicht mehr. Denn in diesem Internet ist ja auch nicht ewig Platz.
Gutjahr: Ich muss Sie aber trotzdem natürlich noch über Ihre Pläne für ein mögliches neues Buch fragen.
Steinbrück: Sie meinen, ob ich jetzt „Fifty Shades of Grey“ aus männlicher Sicht schreibe?
Gutjahr: Ja oder eher „Twenty Five Percent of Peer“…
Steinbrück: Nein, dann schreibe ich vielleicht etwas ganz anderes.
Gutjahr: Wir sind gespannt. Vielleicht ein Blog? …Ach nein, hatten Sie schon. Mein Fehler.
Steinbrück: Okay.
Gutjahr: Herr Steinbrück, vielen Dank.
Steinbrück: Ich danke Ihnen, Herr Gutjahr.
* Amazon Partnerlink – Wenn Ihr das Buch über diesen Link kauft, erhalte ich (ein bisschen) und Herr Steinbrück (ein bisschen mehr) Geld. Am Verkaufspreis ändert sich für Euch nichts.
Ein bisschen vorgeführt haben Sie ihn aber schon. Richtig so! Erfrischend auch die Ehrlichkeit mit den 500 Tacken für das Rezensions-Lesen oder dem Partnerlink.
Zum Interview: Ernüchternd – wenn auch wenig neu – die Tatsache, dass die etablierten Politiker offenbar keinen Plan von bzw. zur Digitalisierung haben. Stattdessen Meckern und Lobbyarbeit gegen die Digital Economy. Natürlich gibt es weitaus gravierendere Defizite in diesem Land, vor allem soziale und demokratische, aber warum Menschen deswegen politikverdrossen werden, fällt Herrn Steinbrück offenbar nicht ein.
Naja, die 500 € waren eine Aufwandsentschädigung (Buch-Lesen + Aufnehmen des Interviews + An/Abreise Berlin = 1 laaanger Arbeitstag), die ich übrigens selbst eingefordert habe. Schließlich ist das Ganze – da darf man sich nichts vormachen – Werbung für Steinbrück und sein Buch.
Sehr gutes Interview. Hat mir sehr gut gefallen, auf welche Fragen Herr Steinbrück da Antwort geben musste.
Leider habe ich ein wenig Angst, dass das „Neulan“ bald noch mehr ein Kriegsschauplatz der Kommerzialisierung und Machtergreifung sein wird. Ich glaube aktuell auch nicht daran, dass unsere Bundesregierung das Ziel hat dies zu verändern und mehr auf „Freiheit“ im Neuland setzt (Netzneutralität? , Netzausbau? , Vorratsdatenspeicherung?) .
Interessant finde ich zudem die folgende Aussage:
„Ich rate meiner Partei, den Freiheitsbegriff aufzunehmen, auch vor dem Hintergrund der Digitalisierung. Was ist mit den Manipulationsmöglichkeiten durch Internetgiganten? Können sie die Algorithmen so verändern, dass plötzlich die öffentliche Debatte von denen mitgesteuert wird? Weil sie bestimmte Ereignisse, bestimmte Personen, bestimmte Inhalte gar nicht mehr vorkommen lassen? Oder in den Suchmaschinen auf Platz 2725 erst auftaucht? Können sie die öffentliche Debatte, unter anderem auch das Freiheitsgefühl, das Selbstbestimmungsrecht der einzelnen Individuen beeinflussen? Wird die Frage gestellt an diese großen amerikanischen Internetgiganten?“
Stellen wir uns diese Fragen mal in Bezug auf Meinungsfreiheit und (missbrauchter/unkontrollierter) Vorratsdatenspeicherung. Für mich ist die VDS ebenso eine ernstzunehmende Beeinflussung.
Die Debatte um die Vorratsdatenspeicherung ist ziemlich verlogen. Vor allem in der SPD. Siehe aktuell auch https://netzpolitik.org/2015/gabriel-vorratsdatenspeicherung-nsu/