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Die Ereignisse dieser Woche haben wieder einmal gezeigt: Wenn es eine Hoffnung gibt für das lineare Fernsehen, dann sind das Breaking News und Live-Events. Doch was, wenn die neuen Technologien uns TV-Machern auch diese letzte Bastion streitig machen?
Echter als Echtzeit
New York City, 26. März 2015, Gasexplosion im East Village. Ein Gebäudekomplex kollabiert, Häuser stehen in Brand, dicke Rauchwolken steigen auf. Keine 20 Minuten nach dem Knall poppt der erste Livestream bei Periscope auf. Bald sind es zwei, drei… schnell habe ich die Auswahl, aus zehn (!) verschiedenen Straßen und Kameraperspektiven und kann den Einsatzkräften bei den Löscharbeiten zusehen. Live. Auf meinem iPhone, irgendwo in der bayerischen Pampa.
Der Wandel ist noch radikaler, als ich dachte
Mein letzter Blogpost drehte sich um meine Erfahrungen als Beta-Tester von Periscope. In dem Text hatte ich behauptet, dass Livestreaming-Apps die Art und Weise verändern werden, wie wir die Welt sehen. Nachdem Periscope nun live und damit in den Händen von Zigtausend Early Adoptern rund um den Globus ist, muss ich mich korrigieren: Der Wandel ist noch um einiges radikaler, als ich mir das hätte vorstellen können.
360-Grad-Journalismus
Eine halbe Stunde nach der Gasexplosion laufen bei den großen Networks noch immer Breaking-News-Laufbänder. Karten werden eingeblendet, Reporter zugeschaltet. Per Telefon. Zu diesem Zeitpunkt habe ich über Periscope bereits die Auswahl aus gut einem Dutzend Video-Livestreams – direkt vom Ort des Geschehens.
Das ist um so beachtlicher, wenn man bedenkt, dass die Livestreaming-App zu diesem Zeitpunkt erst wenige Stunden im App Store veröffentlicht wurde. Wieviele Livestreams hätte es wohl eine Woche, einen Monat allein zu diesem Ereignis gegeben?
Dan Gillmor, Journalismus-Professor an der Arizona State Universität und Autor eines Buchs über Citizen Journalism:
“When something newsworthy is happening where it is unexpected, the odds that a professional journalist holding a camera or video camera are small. But the odds that a regular person will be there are close to 100 percent.” (Quelle: Japan Times)
Smartphone schlägt Ü-Wagen
Und so darf es nicht überraschen, dass die beste Berichterstattung an diesem Tag nicht etwa von einem traditionellen Fernsehsender kommt. Auch nicht von einem erfahrenen TV-Reporter. Er stammt von einer engagierten Mitarbeiterin von Mashable, einer Tech-lastigen Nachrichten-Website, die heuer ihr 10jähriges Bestehen feiert.
Die Reporterin begnügt sich an diesem Tag nicht etwa mit einem einzigen Livestream. Weil Periscope noch neu ist und viele Mashable-Leser sich gerade erst mit Meerkat angefreundet haben, bringt sie es tatsächlich fertig, mit zwei (!) iPhone 6 Plus (!!) in den Händen durch die Straßen von Manhattan zu laufen um dabei live zu kommentieren, was sie sieht.
And guess what: Es funktioniert!
TV-Reporter als Staffage
Anders als beim traditionellen Fernsehen, bei dem der Reporter oft verspätet am Ort des Geschehens eintrifft und ohne eigene Recherche sofort auf Sendung muss, wirken die Handy-Livestreams erfrischend sachlich und unaufgeregt.
Ich habe sogar schon erlebt, dass sich TV-Reporter Agenturmaterial aus der Zentrale faxen lassen, weil sie keine Möglichkeit haben, selbst zu recherchieren – und das obwohl sie selbst vor Ort sind! Das führt zu Schaltgesprächen nach dem Motto: „Wie Sie hinter mir sehen können, sehen Sie nichts!“
Blindflug im Dunkeln. Korrespondenten lassen sich gerne Agenturmeldungen ins Büro faxen.
Journalismus als Computerspiel
Während der TV-Reporter an seinen Ü-Wagen gefesselt ist und sich nur wenige Meter von seiner Standup-Position entfernen darf, kann die Mashable-Reporterin frei herumlaufen. Durch diese subjektive Kameraperspektive habe ich zeitweise sogar das Gefühl, als liefe ich selbst mit ihr durch die Straßen von Manhattan, ein bisschen so, wie in einem Computerspiel.
Das Wissen darum, dass die Häuserschluchten, die Feuerwehrautos und die Sirenen echt sind und dass alles, was ich sehe, in Echtzeit passiert, zieht mich umso stärker in den Bann.
Journalismus at its best
Während ich so mit der Reporterin durch die Straßen gehe, erfahre ich eine Menge über die Situation vor Ort. Anders als die sensationsheischenden Journalisten-Darsteller von CNN oder Fox-News, gelingt es der Kollegin, sachlich und unaufgeregt ihre Eindrücke auch jenseits des Kamerabildes zu schildern: Sie erklärt mir, wo sie sich genau befindet, gibt mir Hintergründe zum East Village.
Sie beschreibt den beißenden Geruch, der in der Luft liegt. Sie spricht Polizeibeamte an, interviewt Augenzeugen. Über die Chat-Funktion kann ich sogar Fragen stellen. Die Reporterin leiht mir sprichwörtlich Augen und Ohren. Journalismus at its best!
Jeder ist CNN
Spätestens an dieser Stelle spüre ich, wie manch Journalisten-Kollegen das Messer in der Tasche aufgeht:
„Und sowas nennen Sie Journalismus?! Da könnte doch in Zukunft jeder zu seinem Handy greifen und das Journalismus nennen!“
Exakt. Mit diesem Einwand hätte der Kollege unser Dilemma präzise auf den Punkt gebracht. Nicht nur, dass durch die neue Technik jeder Mensch zum Reporter werden kann. In einigen Fällen machen diese Amateure sogar einen besseren Job, als diejenigen Kollegen, die sich und ihren Job nicht mehr hinterfragen und sich stattdessen lieber in ihrer Qualitätsjournalisten-Hybris verlieren.
Livestream ist der neue Mainstream
Ich sage nicht, dass jeder Mensch ein geborener Livereporter ist. Jedoch reichen aus den Millionen von Smartphone-Besitzern weltweit ein paar Wenige, die das anständig machen. Durch die Fülle an unterschiedlichen Streams, lassen sich Bilder und Informationen schnell verifizieren bzw. falsifizieren, so dass aus der zufälligen Kolaboration mehrerer unabhängiger Laien-Reporter schnell ein guter Gesamteindruck entsteht.
Dass es bei Live-Übertragungen durch Amateure schnell zu Pannen, Hysterie oder auch Falschinformationen kommen kann, soll dabei gar nicht unter den Tisch gekehrt werden. Jedoch: Wenn ich mir anschaue, wieviele journalistische bzw. ethische Entgleisungen mir allein im Zuge der Berichterstattung zum jüngsten Flugezugabsturz begegnet sind, sollten wir Profis nicht so tun, als wäre alles Gold, was wir in solchen Situationen abliefern.
Was wir lernen können
Statt neue Apps wie Meerkat oder Periscope zu verteufeln, sollten wir Journalisten uns lieber die Mühe machen und untersuchen, was wir aus einer Case-Study wie der Gasexplosion von New York lernen können.
Dazu habe ich einige Screenshots gemacht mit Momenten und Zuschauer-Kommentaren, die für mich die Stärken und Schwächen dieser neuen Medien-Wirklichkeit am besten auf den Punkt bringen:
Reporterleistung und Plattform sind entscheidend
Meine zwei wichtigesten Erkenntnisse aus der Mashable-Berichterstattung sind:
Journalist und Plattform werden zum Team. Das Publikum honoriert sowohl Plattform, als auch die Reporter-Leistung. Ein weiterer Hinweis dafür, wie Mensch und Technik immer weiter miteinander verschmelzen.
Attacke auf den Big Screen
Noch werden Meerkat- und Periscope-Livestreams überwiegend auf PCs, Laptops oder Mobilgeräten betrachtet. Doch was würde wohl passieren, wenn AGFA (Apple, Google, Facebook, Amazon) solche Livestreams über ihre TV-Boxen (bzw. Sticks) auf den großen Bildschirm brächten – Seite an Seite neben den klassischen TV-Sendern? Via Airplay ist das heute schon möglich und wirkt (mal abgesehen vom vertikalen Handy-Format) ziemlich beeindruckend.
Viel Fantasie benötigt man nicht, um sich vorzustellen, wie das in fünf Jahren aussehen könnte, wenn das G5-Mobilfunknetz schneller ist als Glasfaser. Sind wir darauf vorbereitet?
Diskussion
Was sind Eure ersten Eindrücke von Periscope oder Meerkat? Welche journalistischen Vor- oder Nachteile seht Ihr? Wie müssten Journalisten diese Werkzeuge in ihre Arbeit integrieren? Diskutiert mit mir.
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Bei der iOS App sollten bald folgen:
– Filtermöglichkeiten des Angebots, z.B. nach Region (aktuell noch zu unübersichtlich)
– Suche nach Schlagwörtern
– Privatsphäre Einstellungen (es wird alles 1:1 von Twitter angezeigt)
– Jugendschutz
– Herzchenfunktion (GANZ wichtig)
Es hat eben ziehmlich gelaggt, das kann aber auch gut an der schlaffen 6MBit Lietung hier liegen.
Sonst eine klasse neue App!
Wird sicher alles noch kommen. Hey, Periscope ist gerade mal 4 Tage alt, Meerkat 4 Wochen.