Das Weihn@chtsmärchen als Web 2.0-Version. In der Hauptrolle: der Medientycoon Robert Murlock, der das Internet hasst und Besuch bekommt von 3 Geistern. Heute die letzte Folge – auch als komplett-Download für den eReader unterwegs als PDF-eBook.
Strophe 5 – Das Ende
Murlock sah sich um. Es war sein Bett und sein Zimmer. Und was das Glücklichste und Beste war, die Zukunft war sein zur Besserung.
»Ich will in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft leben, « wiederholte Murlock, als er aus dem Bett kletterte. »Die Geister von allen dreien sollen in mir wirken. O, Johannes Gutenberg! der Himmel und die Weihnachtszeit seien dafür gepriesen! Ich sage es auf meinen Knieen, alter Johannes, auf meinen Knieen.«
Er war von seinen guten Vorsätzen so erregt und außer sich, daß seine bebende Stimme kaum auf seinen Ruf antworten wollte. Er hatte während seines Ringens mit dem Geiste bitterlich geweint und sein Gesicht war noch naß von den Thränen.
»Sie sind noch nicht tot« rief Murlock, eine der Zeitungen vom Nachttisch an die Brust drückend, »sie sind nicht zerrissen. Sie sind da, ich bin da, die Schatten der Dinge, welche kommen, können vertrieben werden. Ja, ich weiß es gewiß, ich weiß es.«
Während dieser ganzen Zeit beschäftigten sich seine Hände mit den Kleidungsstücken: er zog sie verkehrt an, zerriß sie, verlor sie und machte allerhand tolle Sprünge damit.
»Ich weiß nicht, was ich thue, « rief Murlock in einem Atem weinend und lachend und mit seinen Strümpfen einen wahren Clown aus sich machend. »Ich bin leicht wie eine Feder, glücklich wie ein Engel, lustig wie ein Schulknabe, schwindlich wie ein Betrunkener. Fröhliche Weihnachten allen Menschen! Ein Gutjahr der ganzen Welt! Hallo! hussa! hurra!«
Wirklich für einen Mann, der so lange Jahre aus der Gewohnheit war, war es ein vortreffliches Lachen, ein herrliches Lachen. Der Vater einer langen, langen Reihe herrlicher Gelächter!
»Ich weiß nicht, den Wievieltesten wir heute haben, « rief Murlock und stolperte in sein Arbeitszimmer. Voller Ungeduld kroch er unter den Schreibtisch, den Startknopf seines Computers suchend. »Ich weiß nicht, wie lange ich unter den Geistern gewesen bin. Ich weiß gar nichts. Ich bin wie ein neugebornes Kind. Es schadet nichts. Ist mir einerlei. Ich will lieber ein Kind sein. Hallo! hussa! hurra!«
Endlich war das Gerät hochgefahren. Murlock öffnete ein neues Fenster. »Google!« jauchzte er »Was für ein wunderbarer Dienst!«
Flink hämmerte er einige Worte in die Tastatur. Ein Fenster mit der Überschrift „AMAZON“ klappte auf, auf dem ein großer, edler Laptop zu sehen war. »Lieferung noch pünktlich zum Weihnachtsmorgen« las Murlock entzückt »Potzblitz! Diese Amazonen sind vielleicht tüchtig!«
»Ich will ihn meinem Praktikanten schenken, « flüsterte Murlock, sich die Hände reibend und fast vor Lachen platzend. »Er soll nicht wissen, wer ihn schickt.«
Er stieg in den Aufzug, lief in der Kabine auf und ab wie ein Tiger. Mit einem Satz war er aus dem Gebäude gesprungen. Kein Nebel; ein klarer, luftig heller, kalter Morgen, eine Kälte, die dem Blute einen Tanz vorpfiff; goldenes Sonnenlicht; ein himmlischer Himmel; liebliche, frische Luft, fröhliche Sirenen. O, herrlich, herrlich!
Die Leute strömten jetzt gerade aus ihren Häusern, wie er es gesehen hatte, als er den Geist der heurigen Weihnacht begleitete; er sah so unwiderstehlich freundlich aus, daß drei oder vier lustige Leute zu ihm sagten: »Guten Morgen, Sir, fröhliche Weihnachten!« und Murlock sagte oft nachher, daß von allen lieblichen Klängen, die er je gehört, dieser seinem Ohr am lieblichsten geklungen hätte.
Illustration: Quentin Blake (Official Website)
Er ging durch die Straßen, sah die Leute hin und her laufen, klopfte Kindern die Wange, frug Bettler, und sah hinab in die Küchen und hinauf zu den Fenstern der Häuser; er hatte sich nie geträumt, daß ein Spaziergang oder sonst etwas ihn so glücklich hätte machen können. Nachmittags lenkte er seine Schritte nach seines Assistenten Wohnung.
Er ging wohl ein dutzendmal an der Thür vorüber, ehe er den Mut hatte, anzuklopfen. Endlich faßte er sich ein Herz und klopfte.
»Potztausend!« rief der Assistent, »wer ist das!«
»Ich bin’s, Robert Murlock. Ich komme zum Essen. Wollt Ihr mich hereinlassen?«
Ihn hereinlassen! Er war in fünf Minuten wie zu Hause. Nichts konnte herzlicher sein, als die Begrüßung seines Assistenten und dessen Familie.
Und alle, wie sie nach der Reihe kamen. Wundervolle Gesellschaft, wundervolles Weihnachts-Karaoke, wundervolle Eintracht, wundervolle Glückseligkeit!
Aber am andern Morgen war er früh in seinem Büro. O, er war gar früh da. Wenn er nur dort hätte zuerst sein können und den Assistenten beim Zuspätkommen erwischen! Das war’s, worauf sein Sinn stand! Und es gelang ihm wahrhaftig! Die Uhr schlug Neun. Kein Assistent. Ein Viertel auf Zehn. Kein Assistent. Er kam volle achtzehn und eine halbe Minute zu spät. Murlock hatte seine Thür weit offen stehen lassen, damit er ihn in das Verließ kommen sähe.
Sein Hut war vom Kopfe, ehe er die Thür öffnete, auch der Shawl von seinem Halse. In einem Nu saß er auf seinem Stuhle und jagte mit dem Kuli übers Papier, als wollte er versuchen, neun Uhr einzuholen.
»Heda« brummte Murlock, so gut wie es ging, seine gewohnte Stimme nachmachend. »Was soll das heißen, daß Sie so spät kommen?«
»Es thut mir sehr leid, Sir« sagte Assistent. »Ich habe mich verspätigt.«
»Nun, Sie gestehen’s« wiederholte Murlock. »Ich meine es auch. Hier herein, wenn’s gefällig ist.«
»Es ist nur einmal im Jahre, Sir,« sagte der Assistent, aus der Kammer hereintretend. »Es soll nicht wieder vorfallen. Ich war ein bißchen lustig gestern, Sir.«
»Nun, ich will Ihnen was sagen, Freundchen,« sagte Murlock, »ich kann das nicht länger so mit ansehen. Und daher,« fuhr er fort, von seinem Stuhl springend, »und daher will ich Ihr Salär erhöhen!«
Der Assistent zitterte und trat dem Lineal etwas näher. Er hatte einen augenblicklichen Gedanken, Murlock eins damit auf den Kopf zu geben, ihn fest zu halten und die Leute in der Lobby um Hilfe und eine Zwangsjacke anzurufen.
»Fröhliche Weihnachten!« sagte Murlock, mit einem Ernst, der nicht mißverstanden werden konnte, indem er ihn auf die Achsel klopfte. »Ich will Ihr Salär erhöhen und mich bemühen, Ihrer Familie unter die Arme zu greifen. Wir wollen heut‘ Nachmittag bei einer Weihnachtsbowle dampfenden Punsches über Ihre Angelegenheiten sprechen!«
Illustration: John Leech, 1843
Murlock war besser als sein Wort. Er that alles und mehr noch, als er versprochen hatte; und für den Qualitäts-Journalismus welcher nicht starb, wurde er ein zweiter Vater. Er gründete ein Watchdog-Blog, das dem Pressekodex im Internet verpflichtet sein wollte. Er lobte Stipendien für Journalistenschulen aus, gründete gar ein E-Lab für Zukunftstechnologien.
Einige Leute lachten, ihn so verändert zu sehen, aber er ließ sie lachen und kümmerte sich wenig darum, denn er war klug genug, zu wissen, daß nichts Gutes in dieser Welt geschehen kann, worüber nicht von vornherein einige Leute lachen müssen; und da er wußte, daß derart Leute doch blind bleiben würden, dachte er bei sich, es ist besser, sie legen ihre Gesichter in Lachfalten, als in Botox. Sein eigenes Herz lachte und damit war er zufrieden.
Er hatte keinen fernern Verkehr mit Geistern, sondern lebte von jetzt an nach dem Prinzip der offenenherzigen Neugier; und immer sagte man von ihm, er wisse das Internet recht zu feiern, wenn es überhaupt ein Mensch wisse. Möge dies auch in Wahrheit von uns allen gesagt werden können! Und so schließen wir mit den Worten: Die Zukunft ist das, was wir aus ihr machen.
Ende.
Ach wie schön. Ein würdiges Ende, das einem die Tränen in die Augen treibt und vor allem eins klar macht: Es ist und bleibt ein Märchen, ebenso wie „A Christmas Carol“.
PS: Wieso schenkt er denn ein grottiges Laptop, doch noch zu geizig für einen Mac Book Air ;-)